Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1894) 860.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

und an diesem Punkt einen prächtigen Sitz bildete. Heute war ich auch von dem Bänkchen zu diesem natürlichen Sessel emporgestiegen und starrte zu der Base hinüber. Sie schien an ihrer Kommode beschäftigt, bückte sich und erhob sich wieder, und dann ging sie zu dem Tisch und blieb dort sitzen, das Haupt gebeugt, als lese oder schreibe sie; ihr Schatten fiel über die ganze Hinterwand der Stube, ein wunderlich geformter Schatten. Vor den zwei Fenstern befanden sich Gitter, wie überhaupt vor allen Parterrefenstern des Gebäudes, schwere schmiedeeiserne Gitter mit kunstvollen Schnörkeln an dem unteren Teil. Ich hatte diese verschlungenen distelähnlichen Blumen einmal nachgezeichnet, die Distel war die Wappenblume der Serrenburgs. Nun nahm ich mir vor, das ganze alte Haus zu zeichnen, so, wie ich es jetzt vor mir sah, düster, in Abendbeleuchtung, und dann noch im lichten Sonnenschein; ich hatte ja in ihm das ganze Glück und das ganze Unglück meines Lebens ausgekostet – es sollte eine Erinnerung für mich sein.

Am liebsten wäre ich die Nacht über hier sitzen geblieben, aber die Unruhe der alten Frau dort drinnen – sie ging jetzt wieder im Zimmer umher – schien mir ein Zeichen, daß sie sich zum Schlafengehen rüsten wolle; so glitt ich denn von meinem Lieblingsplatz herunter und schlug langsam den Weg nach dem Hause ein. Ein paar Tropfen sprühten mir ins Gesicht, es begann zu regnen. Wenn es regnet, schläft man so schön, hatte Mama immer gesagt; ich war müde, todmüde, trotzdem machte ich noch einen kleinen Umweg, ehe ich den Garten verließ. Als ich in mein Zimmer trat, sah ich die alte Frau nicht, aber auf dem Tische neben der Lampe und dem geöffneten Tintenfaß stand ein Teller mit zwei großen, tauig beschlagenen Pokalen mit duftender Bowle. Eine Sekunde streckte ich die Hand danach aus, ich war sehr durstig, dann ließ ich es, und in diesem Augenblick kehrte die Base zurück.

„Sie trinken doch auch nicht, Anneliese?“ fragte sie und ergriff die Gläser, um sie hinauszutragen. „Es ist so süßes fades Zeug; er liebt es so süß. Ich bringe es hinaus, mögen die Leute es sich nehmen!“

Ich gab ihr recht, und als sie wieder hereinkam, sagte sie: „Wenn Sie so denken wie ich, Annelieseken, dann gehen wir schlafen.“

Ich suchte jetzt schon immer um neun Uhr mein Lager auf. Was sollte ich auch thun? Der einzige Augenblick, wo ich mich ruhig und geborgen fühlte, war der, wenn die Base abends den Schlüssel an unserer Stubenthür herumgedreht hatte. Ich streichelte ihr beim Gutenachtsagen über die Wangen; sie waren naß, und auf dem schwarzen Haubenband lagen noch glänzende Tropfen verstreut.

„Sind Sie draußen gewesen, Base?“ fragte ich erstaunt.

„Ja!“ bestätigte sie. „Nur über den Hof hinüber zum Gärtner, wegen dem Spargel für morgen.“

Ich saß schon halb entkleidet auf dem Bettrand, als ich sie rufen hörte, sie könne den Schlüssel zu ihrer Thür nicht finden, die auf den Flur mündete; ob ich nicht einmal nachsehen wolle, ich habe doch junge Augen.

Drei, viermal leuchteten wir umher, hoben die Matte vor der Thür auf, es fand sich nichts. Es waren altmodische Schlösser, der Schlüssel riesengroß, er konnte sich unmöglich verstecken.

„Das ist doch sonderbar, Base!“

„Ich weiß auch gar nicht – ich hab’ ihn heute nicht von außen stecken lassen, weil ich gar nicht fort gewesen bin. Und vorhin, als ich da hinüber lief, da habe ich ihn doch noch im Schloß gesehen.“

„Was machen wir nun?“ fragte ich.

„Nichts, Kindchen; wir schlafen bei offener Thür. Oder fürchten Sie sich?“

„Ich? – Nein!“

„Dann legen Sie sich getrost hin; wer bei Ihnen stehlen will, muß erst durch meine Zimmer, Anneliese.“

„Sprechen Sie davon nicht, Base,“ sagte ich und löschte mein Licht aus.

Aber schlafen konnte ich nicht; Gott weiß, was mir für abenteuerliches Zeug im Kopfe umherging. Bald glaubte ich Tritte zu hören, bald ein Rascheln und Atemholen. Thörichtes Mädchen! schalt ich mich selber. Die Base nebenan hustete zuweilen, es klang so tröstlich. Draußen rauschte der Regen mächtig hernieder, das einförmige Geräusch machte wirklich müde, ich schlief ein.

Plötzlich erwachte ich – wodurch, kann ich nicht sagen; im nächsten Augenblick saß ich aufrecht im Bett und lauschte. Von der Marienkirche drüben schlug es zwei Uhr; der Regen plätscherte immer noch. Aus der Stube der Base kam es, das Rascheln und Räumen, ein leises vorsichtiges Tasten und ein Knistern wie von Papier oder dergleichen. Ich schlich, notdürftig angekleidet, mit verhaltenem Atem und furchtbarem Herzklopfen auf meinen weichen Filzpantoffeln hinüber zur halb angelehnten Thür – Was mochte die alte Frau dort treiben?

An der Kommode sah ich eine Gestalt, eine dunkle Gestalt, eifrig bemüht, in der aufgezogenen Schublade zu krämen. Die Base schloß ihre Fensterläden nie, es war deshalb ein dämmeriges Licht in dem Raume. Die alte Frau lag im Bette und schlief.

Mir wankten die Knie, und die Zunge ward mir schwer wie Blei. Dann schlug ich die Thüre zu, daß es dröhnte, und sprang an die elektrische Klingel; unheimlich gellte der schrille Klang durch das Haus. „Hilfe!“ schrie ich aus meinem Zimmer auf den Flur hinaus, „Diebe! Diebe!“

Eine dunkle Gestalt flüchtete dem Hausgang zu; ich ließ noch immer die Klingel gellen.

Dann lief ich zur Base hinüber. „Um Gottes willen, wachen Sie doch auf! Wachen Sie auf!“ Mit zitternden Fingern machte ich Licht. Sehen Sie doch, es waren Diebe hier, Sie sind bestohlen!“

Die alte Frau saß aufrecht im Bette, ohne jedes Zeichen von Ueberraschung.

„Sehen Sie doch!“ wiederholte ich ungeduldig.

„Ja, ja,“ murmelte sie – „ich bitte Sie, Anneliese, ziehen Sie sich an, Sie erkälten sich sonst; ich will gleich aufstehen.“

Im Hause wurde es lebendig, das Stubenmädchen erschien und die Köchin; die alte Frau hatte sich rasch angekleidet. Man beleuchtete nun die geöffnete Kommode, aus deren oberster Schublade der Inhalt zum Teil herausgerissen war, zum Teil unordentlich hervorsah, und bestürmte die Base mit Fragen.

„Ja, wie kann er denn hereingekommen sein, der Dieb? Einsteigen ist doch nicht möglich! Schickt auf die Polizei und weckt den Herrn – der Herr muß doch kommen! Wo ist Friedrich?“ riefen die Mägde durcheinander.

„Der schläft,“ sagte das Stubenmädchen.

Die Köchin lief hinauf, den Herrn Wollmeyer zu wecken. Nach einigen Minuten erschien mein Stiefvater auf dem Platze. Er begann die Base auszufragen, mit gerunzelter Stirn und der verdrießlichen Miene, die Leute haben, die unsanft aus ihren süßesten Träumen aufgestört sind.

„Ist denn thatsächlich gestohlen?“ forschte er, „was vermissen Sie, Base?“

„Nichts!“ antwortete die alte Frau, „wahrscheinlich fand der Dieb nicht, was er suchte.“

„Ist das Sparkassenbuch da?“

„Jawohl, das wird schon da sein; bin auch gar nicht bange, daß der Mensch es mir hat stehlen wollen.“

„Na, aber was denn sonst, Base?“ rief eines der Mädchen.

„Ja, was weiß ich!“

Herr Wollmeyer sah sich im Zimmer um. „Zum Fenster kann doch niemand herein? Es muß sich also jemand im Hause versteckt gehalten haben. Bemerkten Sie denn kein verdächtiges Geräusch oder das Aufbrechen des Schlosses? Schliefen Sie so fest?“

„Ich war wach, und die Thüre war offen,“ berichtete die Base, „ich habe den Mann hereinkommen sehen und alles beobachtet.“

„Warum haben Sie denn nicht um Hilfe gerufen?“ fuhr die Köchin sie an, „der Kerl hätte seine gesalzene Tracht Prügel heimgetragen.“

„Nun, ich wollt’ ihm gerade sagen, daß er nicht finden würde, was er suche, und daß er machen solle, fortzukommen, da klingelte Fräulein Anneliese.“

„Diese Seelenruhe begreife ein anderer!“ bemerkte Herr Wollmeyer, und seine zwinkernden flimmernden Augen suchten mich. „Legt Euch schlafen, Kinder, morgen früh lasse ich die Polizei holen.“

Ich konnte nicht sprechen vor Aufregung, wandte mich um und ging in mein Zimmer zurück. Bald darauf war die Stube leer, und die Base kam zu mir. Mitleidig sah sie mich an.

„Beruhigen Sie sich, Annelieseken, schlafen Sie schön! Morgen wird anderer Rat.“

„Warum riefen Sie mich nicht, Base?“

„Wozu denn? Ich wußte, der Dieb würde nichts finden; da that ich, als schliefe ich.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_860.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)
OSZAR »