Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1894) 862.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Sie brachte mich zu Bette, gab mir Wasser zu trinken und hielt meine zitternden Hände. „Armes Kind! Armes Kind, was müssen Sie alles erleben!“

„Ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe hier!“ rief ich. „Wenn wir übermorgen hier ermordet werden, ist’s kein Wunder!“

Am andern Morgen war ich halb krank.

Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde von dem versuchten Diebstahl bei Wollmeyers in der Stadt verbreitet; die einzige, die gelassen blieb, war die Base. Die Komtesse kam; „wie ich gehe und stehe,“ entschuldigte sie sich, „im Morgenkleid.“ Sie besah sich die geöffnete Kommode, in dem die saubern Knüpftücher der alten Frau, verschiedene Pappschächtelchen, ein perlengesticktes Brillenfutteral, Briefschaften u. s. w. durcheinander gewühlt lagen, schüttelte den Kopf und prophezeite den Untergang der Welt, wenn überhaupt erst so etwas vorkommen, in Westenberg vorkommen könne. Daß der Dieb nicht das Sparkassenbuch mitgenommen habe, das offen obenauf lag, das begriff sie nicht. „Habt Ihr schon nach der Polizei geschickt?“ fragte sie.

Die Base verneinte.

„Da hört doch alles auf!“ fuhr die Komtesse sie an, und als in diesem Augenblick Wollmeyer eintrat, um sich notgedrungen zu erkundigen, wie denn der gestrige Schreck abgelaufen sei, entspann sich in meinem Wohnstübchen ein heftiges Wortgefecht zwischen den beiden, in dem diesmal Wollmeyer unterlag, denn die resolute Dame erklärte ihm, wenn er die Sache nicht anzeigen wolle, so werde sie es thun; im Interesse von ganz Westenberg müsse das geschehen. Und obgleich sie durchaus kein Recht besaß, diese Drohung auszuführen, wirkte sie doch auf meinen Stiefvater. Er schickte Friedrich nach dem Rathause. Unverkennbar war er in sehr schlechter Stimmung; er zuckte die Achseln, nannte die ganze Geschichte eine Bagatelle und den Anteil, den man daran nahm, übertriebene Sucht nach Sensation. Als dann aber auch der Sanitätsrat noch dazu kam und der Komtesse zuflüsterte, man sei die strengste Untersuchung der ganzen Stadt schuldig, machte er eine halbwegs anständige Miene zu der Sache.

Der Kommissar, Herr Braunberg, erschien höchstselbst mit dem Stadtsergeanten und mein Stiefvater erklärte, es sei ein unbegreiflicher Vorfall und er müsse beinahe die Begebenheit für eine krankhafte Sinnestäuschung der beiden Beteiligten halten.

Der sehr gefällige Beamte besah sich zunächst den Thatort, erfuhr die Schlüsselgeschichte, schüttelte den Kopf, als er hörte, daß nichts gestohlen sei, und verlangte auch mich zu sprechen.

Tante Komtesse half, mich anzukleiden. In der Stube der Base war das gesamte Personal des Hauses versammelt; wir traten nun auch ein.

„Bemühen Sie sich doch nicht,“ sagte die Base gerade zu dem Polizeikommissar, „Sie fangen ihn doch nicht!“

„So? Das warten Sie ab! Haben Sie einen Verdacht?“

„Was heißt Verdacht?“ murmelte sie. „Ich sage nur, gestohlen ist nichts, also wozu die ganze Geschichte? Ich glaub’, der Dieb war gar kein Dieb, sondern einfach ein neugieriger Mensch.“

„Schwatzen Sie nicht Unsinn!“ fuhr mein Stiefvater sie an.

„Wer von den Leuten kam zuerst auf Ihr Klingeln?“ fragte der Kommissar nun mich.

Köchin und Stubenmädchen meldeten sich: „Wir!“

„Wer ist noch im Hause?“

„Hier, der Diener.“

„Kam der Diener auch gleich?“

„Nein, der schlief; wir konnten ihn gar nicht ermuntern,“ sagte die Köchin. „Das machten die zwei großen Gläser Bowle, die er sich zu Gemüt geführt. Das Fräulein und die Base hatten nichts getrunken, da mußte der Gierschluck die Bowle gleich hinunterschütten.“

Friedrich erklärte, er sei nach dem Genuß des Weines völlig betrunken gewesen und habe sich kaum mehr aufrecht erhalten können; noch jetzt sei er wie benommen im Kopf. So ’ne Maibowle habe es in sich und er sei Wein nicht gewohnt, setzte er entschuldigend hinzu.

„Wahrscheinlich sehr schwerer Wein?“ bemerkte der Polizeikommissar.

„Nein, durchaus nicht! Eine Flasche leichten Sekts, zwei Flaschen Mosel,“ lachte Herr Wollmeyer.

„Und die Tropfen, Herr Stadtrat,“ erinnerte der Diener, „die ich aus dem Schlafzimmer holen mußte.“

„Was für Tropfen?“ fragte der Beamte.

„Die Orangenessenz,“ warf Herr Wollmeyer leicht ein. „Ich nehme immer Orangenessenz zur Maibowle; versuchen Sie es nur ’mal, Braunberg; delikat, sage ich Ihnen.“

„Haben Sie Verdacht auf den Diener?“ fragte der Polizeikommissar die Base, nachdem Friedrich und die Mädchen sich entfernt hatten.

„Gott bewahre, der ist die ehrlichste Haut unter der Sonne,“ erklärte diese rasch.

„Erinnern Sie sich der Gestalt des Menschen?“ wandte er sich jetzt wieder an mich.

„Ja; ungefähr wie Herr Wollmeyer, breit, gedrungen, was man so ,untersetzt‘ nennt,“ erklärte ich.

Herr Wollmeyer lächelte. „Sehr schmeichelhaft!“

„Anzug, gnädiges Fräulein?“

„Weiß ich nicht; jedenfalls dunkel. Ich erkannte kaum mehr als die Umrisse der Gestalt.“

Der Beamte fragte nicht mehr; er betrachtete nochmals die Fenster, öffnete und schloß sie und schüttelte den Kopf. „Ein Einsteigen ist ausgeschlossen,“ sagte er, die starken eisernen Gitter musternd, „es ist also entweder jemand vor dem Schließen der Hausthür eingedrungen und hat sich versteckt gehalten, oder aber –“ er stockte und sah die Base an – „es ist ein Hausdieb gewesen. Fräulein Himmel, was für Wertsachen haben Sie im Besitz?“

„Mein Sparkassenbuch, das obenauf lag; es wurde nicht genommen. Ferner eine altmodische Brosche, eine Uhr aus Silber, einige silberne Löffel.“

„Das ist alles noch vorhanden?“

„Ja.“

„Besitzen Sie nicht etwas, das, an und für sich vielleicht unscheinbar, für eine bestimmte Persönlichkeit von großem Werte ist?“

Die alte Frau zögerte einen Augenblick. „Ja,“ sagte sie dann laut.

„Nur für eine ganz bestimmte Person?“

„Für zwei Personen, Herr Kommissar.“

„Befinden sich diese Personen hier im Hause?“

„Eine davon, ja!“

Mein Stiefvater stand unbeweglich am Thürpfosten; seine Augen hingen starr an der alten Frau bei dieser Wendung.

Der Beamte wandte sich jetzt um und bat sehr höflich die Komtesse, sich zu entfernen; auch den Sergeanten schickte er fort. Die Base, Herr Wollmeyer, der Polizeikommissar und ich blieben allein. Mit zitternden Händen ergriff ich die Lehne eines Stuhles. Was würde nun kommen!

„Berichten Sie, Fräulein Himmel,“ forderte sie der Kommissar auf.

„Sie fragten mich, ob ich etwas besitze, das großen Wert für eine bestimmte Person hat. Ich habe Ja gesagt,“ erwiderte die Base. „Dieses Besitztum sind zwei Schriftstücke, die mir die verstorbene erste Ehefrau des Herrn Wollmeyer vor ihrem Tode übergab, unter der Bedingung, sie nur im Falle der Not in geeignete Hände zu legen.“

„Und Sie nehmen an –?“

„Ich weiß, daß diese Schriftstücke von großer Wichtigkeit sind für Herrn Wollmeyer.“

„Mir ist von solchen Schriftstücken nichts bekannt,“ rief mein Stiefvater. „Was soll das für eine alberne Geschichte werden! Herr Polizeikommissar, ich bitte, machen Sie dieser Komödie ein Ende!“

Der Beamte hatte plötzlich ein so marmornes Gesicht bekommen, daß die jovialen Worte des Herrn Stadtrats daran abprallten wie Wellen an einem Felsen. „Wo befindet sich die andere Person, die ein ebenso großes Interesse an den Doknmenten hat?“

Eine lange Pause folgte.

„Da Sie den einen genannt haben, fordere ich auch den Namen des andern,“ klang es streng.

„Robert Nordmann in Halle,“ gab die alte Frau mit fester Stimme zur Antwort.

„Sie wissen bestimmt, daß diese Person gestern abend nicht hier gewesen sein kann?“

„Ich weiß es bestimmt,“ sagte sie.

„Aha!“ fiel Herr Wollmeyer ein, „jetzt beginnt mir die Sache verständlich zu werden – mein Herr Neffe spielt hier eine Rolle. Sie erinnern sich vielleicht noch, lieber Braunberg, der Gymnasiast, der damals bei Nacht und Nebel nach Amerika durchbrannte.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_862.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2022)
OSZAR »