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Seite:Die Gartenlaube (1894) 866.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

kichern, wenn sie nun miteinander fort in den Wald gehen müssen, um Erdbeeren zu suchen zum Abendbrot?

Es ist freilich schlimm, daß die arme Mutter nichts zu essen hat. Es ist nur gut, daß sie einschläft, da denkt sie doch nicht daran. Warum nur der Vater so lustig ist und gar so laut singt? Damit wird er sie gewiß aufwecken! Freilich was thut’s, wenn er soviel im Korbe hat? Speck und Butter, Mehl und Würste, vierzehn Eier! Nun hat alle Not ein Ende, und nun hätten auch die armen Kinder nicht in den Wald gebraucht, sondern hätten sich gleich zu Hause sattessen können. Und was da der Vater sagt, wenn es wahr wäre, wenn sie sich in der Nacht verirrten und an den Jlsenstein gerieten zur Knusperhexe im Knusperhaus, wo sie in den Ofen gesteckt und gebacken werden zu Lebkuchenkindern und dann gefressen von der schrecklichen Hexe? Die kleinen Herzen beben, wie sich rasch der Vorhang senkt.

Nun hat sie die Knusperhexe wahrscheinlich schon gefressen? Aber nicht wahr, die Knusperhexe muß sie wieder hergeben? Lebt die Knusperhexe aber auch in einem wirklichen Pfefferkuchenhaus? Weicht denn der Pfefferkuchen nicht auf, wenn’s regnet? Und so geht’s fort mit Fragen, und die kleinen Mäuler stehen nicht still, bis auf einmal das Glöckchen klingt und es nun wieder heißt: Aufpassen! So schlimm war’s ja nicht! Da sitzt ja Gretel ganz vergnügt auf der Wurzel und windet einen Hagebuttenkranz, und unter den Büschen kriecht der Hänsel herum und sucht Erdbeeren. Und schon ist das Körbchen ganz voll. So, Hänsel, da hast Du auch eine Beere zum Kosten. So, Gretel, da hast Du nun auch ein paar in den Mund. Und immer mehr wandern in die kleinen Schnäbel, und nun zanken sie sich gar herum, und Hänsel schüttet sich die letzten ein. Da sitzen sie. Hänsel, was hast Du gethan? Das Körbchen ist leer. Wenn sie ohne Beeren zur Mutter heimkommen, was wird’s da geben? Und dabei wird’s schon düster, finster. Wenn jetzt die Hexe käme! Hu! Gretel schaudert. Müd’ sinken sie hin, Sandmännchen kommt und streut ihnen Schlummer in die Augen. Noch können sie gerade beten:

Abends will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn,
Zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen,
Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken,
Zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken,
Zweie, die mich weisen zu Himmelsparadeisen.

Und sie sind in guter Hut. Von der Himmelsleiter steigen vierzehn Engel nieder, und während die Kinder, aufs Moos zurückgesunken, Arm in Arm schlummern, schließen sie um sie einen festen Kreis. Auf den Kindergesichtern wird es hell und der Kummer der Besenbinderskinder, die Sorge der Eltern und die Schrecken der Hexe sind vergessen, und leise beten die kleinen Lippen mit:

Zweie, die mich weisen
Zu Himmelsparadeisen.

Wie schade, daß der Vorhang sinkt! Das Sandmännchen und die Engel hätten sie so gern noch ein wenig gesehen. Aber das Knusperhäuschen war ja nicht dabei! Während es den Erwachsenen ist wie eine Kindheitserinnernng und die Kinderfröhlichkeit sie an die eigene Jugend gemahnt, spannen die Kleinen aufs Knusperhäuschen.

Nun kommt das Taumännchen. Aus einer Glockenblume schüttelt es Tautröpfchen auf die schlafenden Kinder. Da wachen sie natürlich auf und reiben sich die Augen. Was ist das? Da kommt die Sonne durch den Nebel, und da glänzt in ihrem Strahl das – Knusperhäuschen. Trotz aller Mahnungen, ruhig zu sitzen, klatscht’s unten im Parterre laut in die Hände. Das ist lebendig gewordenes Weihnachten: wie sie alle dumm dastehen, die Pfefferkuchenmänner, und den Zaun bilden vom Knusperhäuschen nach dem Backofen und dem großen Käfig hinüber und wie das Häuschen selbst zuckerig aussieht! Ja, wer da mit hineinbeißen dürfte! Man kann’s Hänsel und Gretel wirklich nicht verdenken, wenn sie sich endlich doch daran machen. Wie Hänsel vorsichtig ans Häuschen schleicht und ein Stück aus dem Dach bricht! Das arme Hänsel!

Knusper, knusper, Knäuschen,
Wer knuspert mir am Häuschen?

tönt’s von drinnen; das ist die Hexe! Wenn sie nur jetzt rasch ausreißen! Aber das dumme Gretel macht sich auch mit dran, und wie sie da schmausen, da kommt die Hexe wie eine Katze von hinten geschlichen und wirft dem armen Hänsel den Strick um den Hals. Hänsel schreit: „Laß mich los“, aber er kann nicht fort, und das gute Gretel bleibt bei ihm. Und nun kommt’s immer schrecklicher. Die Hexe lähmt den beiden durch Zauber die Glieder, daß sie nicht fort können. Hänsel muß in den Stall und soll gemästet werden. Gretel ist der greulichen Hexe fett genug zum Gleichfressen. Die kleine Zuschauerschaft atmet ängstlich, und hie und da glänzt im glänzenden Auge eine Thräne. Die Lippen verziehen sich schmerzlich. Hänsel bekommt Mandeln und Rosinen, damit er bald fett wird; als aber die garstige Hexe nachschaut, ob er schon einen schmackhaften Braten geben würde, da reicht er ihr ein Stöckchen statt des Fingers, und das pfiffige Gretel lernt der Knusperhexe geschwind ab, wie man sagen muß, um die Gliederstarre wieder los zu werden:

Hocus pocus Holderbusch!
Schwinde, Gliederstarre, husch!

sagt sie leise zu Hänsel hinter dem Rücken der Hexe, und als diese fragt, was sie gesagt habe, da macht sie ihr weis, sie habe ihrem Bruder nur gute Mahlzeit gewünscht. Dafür soll Gretel nun in den Backofen geworfen werden. Aber sie ist schlau und stellt sich dumm, und wie ihr’s die Hexe zeigt, wie man sich dazu vorbiegen muß, schwapps, da springt Hänsel herzu, und schwupps fliegt die Hexe selbst ins Feuer. Da ist endloser Jubel bei der kleinen Zuhörerschaft, und sie können es kaum mehr erwarten, wie die Lebkuchenkinder entzaubert werden und die Knusperhexe als großer Pfefferkuchen wieder aus dem Ofen kommt. Denn das Große ist ja nun geschehen, und nun geht’s heim, heim zum neuen Spielzeug, heim zum Weihnachtsbaum!


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_866.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)
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