verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Tochter doch einmal nach Rußland gehen, so wollte er ihr wenigstens eine Denkschrift ausarbeiten, in der sie Warnungen vor mancherlei Gefahren und andere nützliche Ratschläge finden sollte. Die Fürstin sollte das Schriftstück mitnehmen und der Tochter nach der Ankunft in Rußland einhändigen. In dieser noch jetzt im Original vorhandenen Denkschrift heißt es, der Kaiserin solle sie „nächst Gott die größte Hochachtung und Dienstfertigkeit fußfällig beweisen“, dem Großfürsten solle sie sich unbedingt unterordnen; nur diesen beiden dürfe sie Vertrauen schenken. Mit Höflingen und Dienern dürfe sie sich nicht auf vertraulichen Fuß stellen, im Audienzzimmer niemand allein sprechen, überall müsse sie sich vorsichtig und zurückhaltend zeigen und sich niemals in Staatsangelegenheiten mischen. Es mußte sich nun herausstellen, ob die Prinzessin geeignet und gewillt war, diese Aufgabe zu erfüllen.
Sophie erfuhr, als die Briefe des Hofmarschalls und des Königs ankamen und die Reisevorbereitungen getroffen wurden, von den Aussichten und Zukunftsplänen der Eltern noch nichts, obgleich ihr deren Erregtheit und die häufigen Gespräche über den russischen Hof und die griechische Kirche auffallen mochten.
Am 10. Januar 1744 reisten der Fürst, die Fürstin und die Prinzessin zunächst nach Berlin. Die Fürstin hatte eine lange Audienz beim König und eine Unterredung mit dem Minister von Podewils. Da der König sie als eine rege und unternehmende Frau kannte und auf ihre Ergebenheit zählen durfte, so unterrichteten er und sein Minister sie auf Grund der Berichte der preußischen Gesandtschaft in St. Petersburg über den russischen Hof und legten ihr die Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der preußischen Politik in Bezug auf Rußland dar. Am 16. Januar setzte die fürstliche Familie ihre Reise in der Richtung nach Schwedt fort. In Schwedt trennte sich der Fürst von den Damen und ihrem kleinen Gefolge, um auf seinen Posten nach Stettin zurückzukehren, und jetzt erst wurde der Prinzessin, die von ihrem Vater für immer Abschied nahm, klar, wohin die Reise gehe.
Obwohl der preußische König die Regierungspräsidenten und die militärischen Befehlshaber, durch deren Gebiet der Weg führte, angewiesen hatte, der „Gräfin Reinbeck“, wie die Fürstin sich unterwegs nannte, behilflich und gefällig zu sein, fanden die Reisenden doch oft ungeheizte Zimmer auf den Stationen, und zuweilen mußten sie und ihre Dienerschaft mit der ganzen Wirtsfamilie und deren Hunden und Hühnern in einem Raum schlafen. Einmal wurden sie von Räubern bedroht. Gegen die außergewöhnliche Kälte schützten sich die Damen durch wollene Masken, Bedeckungen des ganzen Kopfes, welche nur die Augen freiließen. In Mitau wurden die Ankommenden, die nun ihr Inkognito wieder ablegten, mit fürstlichen Ehren empfangen, und von Riga an, wo der Prinzessin als erstes Geschenk der russischen Kaiserin ein prachtvoller Zobelpelz überreicht wurde, war ihr Schlittenzug von hohen und niederen Hofbeamten und von Kavallerie-Abteilungen geleitet. Von Ehrensalven begrüßt, kamen sie am 14. Februar in St. Petersburg an. Der Hof befand sich seit vierzehn Tagen in Moskau, um dort wie alljährlich mehrere Monate zu residieren, und es war Sitte, daß die Würdenträger des Reiches, der Senat, die oberen Behörden mit ihren Kanzleien, die fremden Diplomaten und andere angesehene Leute gleichzeitig nach Moskau übersiedelten. Der englische Gesandte giebt an, daß die Gesamtzahl der Uebersiedelnden mit den vielen Beamten, Geschäftsleuten und Dienern sich auf 100000 Köpfe belief. Der Zug der Schlitten und Wagen dauerte mehrere Wochen. Die kaiserlichen Schlösser zwischen St. Petersburg und Moskau waren für die Würdenträger Tag und Nacht gastlich geöffnet. Nach einer Rast von nur zwei Tagen schlossen sich die beiden Damen, von mehr als zwanzig Schlitten begleitet, dem mächtigen Wanderzuge an. Am 20. Februar erfolgte ihre Ankunft in Moskau. Die Kaiserin und der Großfürst empfingen sie mit großer Freundlichkeit. Nach der ersten Begrüßung ließ die Kaiserin ihre Augen lange auf der Fürstin ruhen, und deren Aehnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bräutigam, dem Bruder der Fürstin, rief ihr ihren Verlust so lebhaft ins Gedächtnis, daß sie auf einige Zeit ins Nebenzimmer ging, um dort ihre Thränen zu verbergen. Sie überhäufte die Damen mit Ehren, Orden und Geschenken, und der von all dem Glanz geblendeten „Fieke“ war zu Mute, als wäre sie leibhaftig in die Welt eines orientalischen Märchens versetzt worden.
Die Verhältnisse, die am russischen Hofe bestanden, waren für jeden, der in dies Hofleben mit eintrat, aus mehr als einem Grunde schwierig und gefährlich. Die Kaiserin Elisabeth war eine Frau, die ihre Zeit zwischen Vergnügungen mancherlei Art und der strengen Beobachtung kirchlicher Gebräuche teilte. Bekanntlich hatte sie ihre Krone durch eine Thronumwälzung erlangt und der von ihr entthronte Kaiser Iwan lebte noch – wir verweisen den Leser auf den bezüglichen Aufsatz im Jahrgang 1893, S. 204, „der Gartenlaube“ – so war sie nie frei von Furcht und Mißtrauen. Um ihre Gunst und um den Einfluß auf ihre Entschließungen stritten sich die Großwürdenträger und die Mitglieder des von ihr wieder zu Ansehen gebrachten Senates: Eine preußisch-französisch-holsteinische Partei stand einer österreichisch-englischen entgegen.
Was den jungen Fürsten betrifft, an dessen Seite und mit dessen Hilfe die Prinzessin einen Platz an diesem Hofe behaupten sollte, so ist an ihm nur allzu sehr das Wort seiner Mutter wahr geworden: „Armes Kind! Nicht zum Glücke bist Du geboren!“ Nicht oft hat sich die trübe Vorahnung einer Mutter als so begründet erwiesen. Peters Vater hatte die Erziehung des Knaben vernachlässigt; das einzige, worin er den Sohn beeinflußte, war, daß dieser von jenem eine krankhafte Vorliebe für das Drillen der Soldaten annahm. Die Lehrer des Prinzen, der mit elf Jahren ganz verwaiste, waren rohe und pedantische Menschen, die ihn mit einer übergroßen Zahl von Unterrichtsstunden quälten, ihn blutig schlugen, ihn trotz seiner Kränklichkeit häufig zur Strafe hungern ließen und ihm niemals erlaubten, im Freien zu spielen. Da er wie auf den russischen auch zeitweilig auf den schwedischen Thron einige Aussichten hatte, so unterrichtete man ihn, je nach dem Stande dieser seiner Aussichten, jetzt einige Wochen in der schwedischen Sprache und im lutherischen Glauben und dann wieder einige Wochen in der russischen Sprache und im griechisch-orthodoxen Glauben. Die Folge war, daß er, als er im Jahre 1742 vierzehnjährig nach Petersburg berufen wurde, beträchtlich unklare Vorstellungen von der Religion hatte und weder Russisch noch Schwedisch verstand. Die Kaiserin Elisabeth gab ihm neue Lehrer und war in der Wahl derselben wiederum nicht glücklich. Einer von ihnen, ein Fanatiker des Anschauungsunterrichts, rühmte von sich: „Wir haben uns bemüht, aus jedem Zufall Nutzen zu ziehen. Auf der Jagd zum Beispiel wurden Bücher mit Abbildungen über Jagden durchgesehen, an den Plafonds wurden die mythologischen Metamorphosen erklärt; an Puppen wurde der Mechanismus der Maschinerie und alle Handgriffe der Taschenspieler besprochen, bei Feuersbrünsten wurden die Löschanstalten und ihre Zusammensetzung erklärt“ etc. Zu planlosem Unterricht und verkehrter Erziehung kam bei dem Großfürsten der Einfluß der einzigen Spielgefährten, die er hatte, nämlich seiner Bedienten, die ihn zum Trunk verführten, hinzu. Wie eingeschüchterte Kinder zu thun lieben, träumte er sich als Helden, und von einigen Kämpfen, die er als Kind im Auftrage seines Vaters gegen Räuber und Zigeuner durchgefochten haben wollte, erzählte er so oft, bis er selbst daran glaubte. Seine Mußestunden am russischen Hofe verbrachte der Knabe damit, daß er oft die Uniform wechselte und mit Bleisoldaten und Puppen spielte. Als er, nun sechzehnjährig, die um ein Jahr jüngere Prinzessin Sophie in Rußland wiedersah, war eine der ersten Mitteilungen an sie das Geständnis, daß er in eine Hofdame der Kaiserin verliebt gewesen sei, doch leider sei sie mit ihrer Mutter nach Sibirien verbannt worden; er habe diese Hofdame gern heiraten wollen, aber nun sei es ihm auch recht, wenn er die Prinzessin heirate, da seine kaiserliche Tante es doch einmal so wünsche. Die Prinzessin schreibt: „Ich hörte ihm errötend zu und dankte ihm für sein Vertrauen, aber im Grunde meines Herzens betrachtete ich seine Unklugheit und seinen Mangel an Urteil mit Erstaunen.“ Ein andermal sagt sie in ihrer zuweilen malerischen Sprache von ihm: „Er war diskret wie ein Kanonenschuß.“ Ihr Verhältnis zu ihm bezeichnet sie später kurz und treffend mit den Worten: „Bei seiner Sinnesart war er mir ziemlich gleichgültig, aber die Krone von Rußland war es mir nicht.“
Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Moskau mußte die Prinzessin anfangen, Unterricht in der russischen Sprache und in der griechischen Religionslehre zu nehmen. Sie begriff, daß von ihrem Eifer und von ihren Fortschritten das Maß des Wohlwollens wesentlich abhinge, das die mächtige Kaiserin ihr erweisen würde, denn noch hatte Elisabeth das entscheidende Wort nicht gesprochen, das die arme „Fieke“ von Zerbst zur Erbin des russischen Thrones erhob. Um das schwierige Russisch schnell zu erlernen, nahm sie
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_870.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2023)