verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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mußte mit ihm in ihrer Stube sein; ich sah ihn nicht, ich hörte nur den Klang seiner Stimme. Viel war es nicht, was er sprach; sie redete mehr. Dann ward es wieder still, er mußte wieder fort sein.
Am Nachmittag kam die Komtesse; sie wollte mich mit Gewalt aus dem Hause nehmen. Ich wehrte mich, die alte Frau dürfe nicht allein bleiben. Kein Mensch außer mir wußte ja, was sie litt in dieser Zeit.
Und am zweiten Tag ward der Mann begraben, still in aller Morgenfrühe. Die Base stand an seinem Grab, sonst niemand.
Eine Frau nur war noch neben die Base getreten an den frischen Hügel, ein Kind an der Hand, einen Jungen von etlichen Jahren, der halb trotzig, halb furchtsam dem Sarge nachsah.
Die Base erzählte es mir, als sie zurückkam. „Nun kann der arme Schlucker betteln gehen,“ hatte diese Frau gesprochen; „wer sorgt in Zukunft für ihn? Umsonst kann ich ihn nicht behalten, die Knopfmarthe hat ihm nichts hinterlassen.“
„Ich werd’ schon sorgen, daß er nicht umkommt; behalten Sie ihn nur, bis der Nachlaß geordnet ist,“ hatte die Base getröstet.
Dann lebten wir zwei allein in dem großen Hause, dessen obere Räume noch immer versiegelt waren; erst nach Wochen konnte das gerichtliche Verfahren geschlossen werden. – –
Der Sommer kam, ein ungewöhnlich heißer Sommer, den ich mehr im Garten verlebte als im Hause, in dem alten melancholischen Garten, der für ein trauriges sehnsüchtiges Gemüt wie geschaffen war. Die Fenster des Hauses sahen so still verschlafen zu ihm hinunter, und die Rosen blühten in wunderbarer Pracht, ohne daß eine Hand sich nach ihnen ausgestreckt hätte. Die Base schlich zuweilen durch die schattigen Gänge und setzte sich neben mich, müßig, die Hände im Schoß.
Die Tage hatten Blei in den Schwingen. Dann kam einer, an dem die alte Frau mich leise fragte: „Ist es wirklich wahr, Anneliese, Sie wollen fort?“
Ich nickte mit abgewandtem Gesicht. „Ja, Base. Sehen Sie, ich werde krank, wenn ich noch länger hier bleibe; ich muß etwas zu thun haben, muß arbeiten, um alles zu vergessen, und – ich denke, ich bin lange genug der Gast von Robert Nordmann gewesen. Er ist doch der Erbe.“
„Aber bis zum Oktober bleiben Sie doch noch?“ Die Lippen der alten Frau zitterten. „Anneliese, bis zum Oktober!“
Der erste Oktober erschien. Ich lebte wie in einem verzauberten Schloß; nichts hörte ich von der Welt da draußen – die Base hatte sogar die Zeitungen abgeschafft. Die Komtesse kam eines Nachmittags, als ich im Garten spazieren ging – nach meiner Gewohnheit dreißigmal rund um den großen Platz in gleichmäßigem Schritt wie eine Schildwache. Sie marschierte neben mir her, bat nur um Verlangsamung des Tempos und fragte: „Na, nun bist Du ja bald erlöst, mein Kücken, die Stelle in England hat Dir die Gräfin Arvensleben verschafft. Ich bin sehr für dieses Engagement, denn, weißt Du, ein bißchen weit weg ist doch besser jetzt. Die ganze Provinz und die umliegenden Dörfer reden ja von nichts anderem als von dieser Geschichte, und eine Zeitung in die Hand zu nehmen, ist nachgerade schrecklich – Wollmeyer und Nordmann, und Nordmann und Wollmeyer!“
Ich blieb stehen und sah sie erschreckt an.
„Ja, meine Anneliese, wer hätt’s gedacht! Jetzt versteh’ ich erst, warum der Mann zur Pistole griff – es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Das sind heitere Sachen, die da zu Tage kamen!
Nordmann hat sich übrigens sehr taktvoll benommen und höchst anständig, denn – hör’ zu – er hat auf das ganze Vermögen Wollmeyers verzichtet, ausgenommen die Besitzung in Thüringen, die Eigentum seiner Mutter war. Ja, aber weißt Du denn das gar nicht?“ fuhr sie mich an, „ich trage Dir das da vor, und Du starrst mir ins Gesicht, als spräche ich irre – Dich geht’s doch am nächsten an und –“
„Ich wußte nicht, Tante, daß die Angelegenheit jetzt verhandelt wird; mich berührt sie übrigens kaum – was habe ich mit Wollmeyers Nachlaß zu thun?“
„Ja so! Aber so recht kannst Du nicht behaupten, daß es Dich nicht angeht. Na, es ist ein altes Sprichwort, Kind, dem Bettelmann fällt das Brot aus der Tasche! Was hat der armen Len’ ihr Opfer nun genützt, Du kriegst doch nicht einen Dreier! Aber ich wollt’ nur sagen: der Nordmann hat das ganze ergaunerte und erwucherte Vermögen seines Onkels der Stadt Westenberg geschenkt, teils zur Erbauung eines Waisenhauses – können wir nämlich famos gebrauchen, denn was hier herumkrebst an verlassenen Würmern, die in schlechter Pflege sind und nicht satt kriegen und geprügelt werden, ist nicht zu sagen – andernteils für die Armenkasse. Ja, und denke nur, er hätte es nicht beweisen können, daß sein Vater damals unschuldig verurteilt wurde, wenn nicht die Base ein paar Schnitzelchen Papier besessen hätte, die die ganze Geschichte klarmachten, einen nachgelassenen Brief von der ersten Frau, der beweist, daß der alte Nordmann kein Dieb war, und zweitens ein Schreiben, das der alte Brankwitz an seinen Bundesgenossen Wollmeyer richtete als Quittung über die empfangene recht bedeutende Kaufsumme für Langenwalde, die Wollmeyer ihm in guten Staatspapieren und barem Gelde gezahlt hatte – drei Tage nach geleistetem Manifestationseid! Und diese Briefe wollte der Biedermann – Gott verzeih’ ihm seine Sünden – natürlich damals stibitzen, damals, als Du um Hilfe geschrien hast und die ganze Angelegenheit zum Klappen brachtest. Herr Gott, Anneliese, in allen Zeitungen steht die Geschichte unter der Spitzmarke: Ehrenrettung eines Verstorbenen.“
„Ich habe nichts gelesen, Tante.“
„Kind, Du mußt Dich nicht grämen; der Wollmeyer hat mehr Menschen verblendet als Deine arme Mutter und mich.“
„Tante, mich nie!“ antwortete ich.
„Es ist wahr,“ gab sie zu, „Du konntest ihn von Anfang an nicht leiden. Wie gesagt, Kind, alles in allein genommen, ist es besser, Du verschwindest ein wenig von hier. Mit der Zeit verwischt sich die Geschichte – vorläufig ist sie doch hier Deiner Zukunft hinderlich, wenn Du auch nicht das Geringste dafür kannst.
Du hast ja auch hier nichts, was zu verlassen Dich schmerzen müßte, ich meine, was so mit dem Herzen verwachsen ist, daß das Losreißen einem unmöglich scheint. Die Base und ich sind zwei alte Weiber, was hast Du an uns? Und Du weißt ja auch, daß wir bei jedem Herzschlag an Dich denken werden und daß, so lange die alten Augen offen sind, Dir eine Zuflucht bei mir sicher ist, wenn draußen die Wellen allzu hoch gehen.“
„Du hast recht, Tante, ich besitze nichts als Euch beide, aber das ist schon sehr, sehr viel, und ich werde es mit Schmerzen hinter mir lassen.“
„Hm!“ sagte sie.
Sie hatte wohl erwartet, daß ich noch von etwas andern reden würde, das ich verlassen müsse. Ich konnte es nicht, ich glaubte ja, daß Robert mich längst vergessen habe, und wenn er mich auch nicht vergessen habe, daß dann ewig trennend die schreckliche Katastrophe zwischen uns liege wie ein Abgrund, den zu überbrücken auch die heißeste Neigung nicht hinreichen würde.
„Also dann – auf nach England, Kind!“
„Ja, Tante.“
„Deine Sachen, ich meine die Sachen Deiner Mama, kannst Du bei mir unterbringen, Anneliese.“
„Ja, Tante, ich danke Dir schön.“
„Ich werde Dich bis nach Hamburg bringen, Kücken, wollt’ schon immer ’mal hin.“
Ich nickte gerührt.
„Was ist eigentlich der Nordmann für ein Mensch?“ fragte sie dann. „Muß ein wunderlicher Heiliger sein; hundert an seiner Stelle hätten den Mammon eingesteckt. Na, zwar – wenn man selbst solchen Geldsack hat! Aber es ist doch nett von ihm; überhaupt hat er die ganze Sache höchst anständig behandelt. Er wolle weiter nichts, als das Andenken seines verstorbenen Vaters reinigen, soll er geäußert haben, schmerzlich berühre es ihn dabei, daß einem andern, der sich nicht mehr verteidigen könne, ein Makel aufgedrückt würde, aber er habe nicht anders handeln können, er sei es seinen verstorbenen Eltern und seiner einstigen Familie schuldig. Was ist Dir denn, Anneliese? Weinst Du? Du bist übrigens recht bleichsüchtig, Kind; von dem bißchen Gehen keuchst Du ordentlich. Spaziere nur langsam, ich muß heim, will Deine Angelegenheit zum Abschluß bringen.“
Sie küßte mich auf die Stirn. „Mut, Kind, es ist alles nur halb so schwer, wie es aussieht.“
Ich stand da neben dem Stamme der alten Linde und lehnte den Kopf daran. Todeseinsam, herbstmüde lag der Garten vor mir, die Abendnebel vom Weiher zogen herauf und hingen gleich leichten Schleiern in den Bäumen; feucht und welk lagen die Blätter am Boden. So still, so schläfrig war die Welt, als wollte sie
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_878.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)