Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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völlig mißverstanden haben. Er beschuldigte Sie, ihn beleidigt zu haben – was thaten Sie?“
„Ich mußte lachen, denn ich hielt die ganze Geschichte für eine große Kinderei, und ging meiner Wege.“
Bei dem naiven Geständnis der jungen Frau mußte Doktor Sonnenthal selber lächeln. Er strich sich schmunzelnd seinen dunklen Schnurrbart, wandte sich mit einem Ruck zu der älteren Dame herum und fragte, sie mit seinen glänzenden durchdringenden Augen anblickend. „Und Sie waren Zeuge, Frau Rätin? Sie waren von Anfang bis zu Ende dabei?“ „ Jawohl. Ich habe gehört, daß Frau Wodrich heftig wurde, – ein Schimpfwort hat sie nicht gebraucht, und ihre Heftigkeit war durch die Grobheit des Kaufmannes provoziert worden,“ sagte die alte Dame ruhig.
Der Rechtsanwalt stellte noch ein paar Fragen, machte sich einige Notizen – damit war die Sache erledigt. Der vielbeschäftigte Mann geleitete selbst die Damen bis zur Thür. „Beunruhigen Sie sich nicht, gnädige Frau, Sie haben eine ausgezeichnete Zeugin – wir werden schon reüssieren. Und im übrigen,“ fügte er mit seinem weichen angenehmen Lächeln hinzu, „möchte ich Ihnen doch raten: lassen Sie all Ihre Bedenken schweigen und teilen Sie Ihrem Gemahl die ganze Affaire mit. Dies ist der Rat eines Freundes. Geheimnisse in der Ehe thun selten gut, gnädige Frau! Solche Erfahrungen habe ich in meiner Praxis schon oft genug gemacht.“
Er drückte ihr warm die Hand und empfahl sich; im Vorzimmer wartete schon eine ganze Reihe von Menschen, die seines Rates bedurften.
„Laß uns, bitte, eine Droschke nehmen, Tante Rätin, mir ist so schwindlig,“ sagte Franziska, als sie die Treppe hinuntergingen. Frau Lorenz sah ihr besorgt in das blasse Gesicht. „Das thut die Aufregung all dieser Tage. Leg’ Dich nur zeitig ins Bett, Franzel, und denk’ nicht mehr an die dumme Geschichte!“
Als Franziska nach Hause kam, erfuhr sie zu ihrer Verwunderung durch die alte Dienerin, die ihr die Flurthür öffnete und den Mantel abnahm, daß der Herr schon seit einer Stunde zu Hause sei.
Regierungsrat Wodrich hatte in den letzten Wochen sehr angestrengt arbeiten müssen und war stets erst in später Abendstunde aus dem Bureau gekommen. Um so mehr war Franziska durch seine heutige frühe Heimkehr überrascht und beinahe erschreckt. Sie legte rasch Hut und Handschuhe ab und betrat das Zimmer ihres Gatten.
Der Regierungsrat war im Vergleich mit seiner Frau kein junger Mann mehr. Sein Haar war an Stirn und Schläfen stark gelichtet und begann zu ergrauen, aber seine hohe, stattliche Gestalt, sein feines, geistreiches Gesicht mit den ernst und gütig blickenden Augen ließen es selbst einem Fremden vollkommen begreiflich erscheinen, daß die kaum zwanzigjährige Franziska Ellwege seine Bewerbung angenommen hatte. Ernst Wodrichs Freunde aber wußten, daß die junge Frau mit einer an Verehrung grenzenden Liebe an dem Mann ihrer Wahl hing.
Als Franziska das Arbeitszimmer ihres Gatten betrat, saß er, mit dem Rücken ihr zugewandt, vor dem Kaminofen und schien zu ruhen. Dies war etwas so Ungewöhnliches an dem sonst so rastlos thätigen Mann, daß die junge Frau bis ins Herz hinein erschrak. Leise ging sie zu ihm hin, legte die Arme um seinen Hals und fragte liebevoll. „Bist Du krank, Ernst?“ Zugleich forschten ihre Augen voll ängstlicher Besorgnis in seinem Antlitz. Es sah blaß und übermüdet aus. Ernst zog das junge Weib auf seine Kniee nieder.
„Man wird alt, Franzel, das Arbeiten strengt an, der Kopf thut weh. Du hättest Dir einen Jüngeren aussuchen sollen,“ scherzte er mit müdem Lächeln.
Sie streichelte ihm mit der kleinen weichen Hand die blasse Wange. „Rede nicht so, Liebster! Was hätte ich wohl mit einem anderen anfangen sollen? Niemand weiß mich so treu und gut und liebevoll zu führen wie Du!“ Dabei legte sie das dunkle Köpfchen mit dem schneefeuchten Haar auf seine Schulter – das Herz war ihr so centnerschwer, und ihre Gedanken drehten sich immerfort in irrem Kreislauf. Warum mußte sie auch gerade jetzt den schwersten Weg ihres Lebens allein gehen – ungeleitet von seiner treuen sicheren Hand? Sie wollte sprechen, ihm alles eingestehen und wagte es doch nicht in dieser Stunde, wo er übermüdet von der Last seines Berufes heimgekehrt war, um an seinem Herde Ruh’ und Frieden zu finden. So kauerte sie ganz still auf seinem Schoß, wie ein im Schlaf zusammengeducktes Vögelchen, von Zeit zu Zeit lief ein Zittern – sie wußte selbst nicht, war’s ein innerlicher Schauder oder körperliches Frostgefühl – über sie hin. Ernst faßte nach ihren Händen, sie waren eiskalt.
„Wo warst Du, Franzel?“ fragte er. „Du hättest bei dem Sturm lieber zu Hause bleiben sollen. Klingle doch, Kind, und bestelle den Thee!“
Franziska sprang auf. „Ich bin doch immer noch der alte unverbesserliche Ego, wie meine Brüder früher sagten,“ seufzte sie. „Statt an Dich zu denken, lasse ich Dich immer nur für mich sorgen. Verzeih’, Liebster, und habe Geduld mit mir – ich will mich nun auch wirklich bessern!“
Sie lief hinaus, trieb das Stubenmädchen, die schon den Theetisch deckte, zu noch größerer Eile an und half der alten Köchin Rieke, die ihr nicht schnell genug war, ein zartes saftiges Beefsteak, wie Ernst es liebte, für ihn zu bereiten. Aber er aß nicht, er hatte schlechten Appetit diesen Abend, entschuldigte sich mit Uebermüdung und rasenden Kopfschmerzen und legte sich auf Franzels Bitten zeitig ins Bett. Sie selbst blieb an seinem Bett sitzen, machte ihm kühlende Umschläge auf den schmerzenden Kopf und pflegte ihn mit sanften geschickten Händen wie eine barmherzige Schwester.
„Es ist ja ordentlich beneidenswert, krank zu sein und sich von Dir pflegen zu lassen, Franzel,“ sagte Ernst, zog die kleine nasse Hand, die ihm behutsam die Kompresse auf die Stirn legte, an seine brennenden Lippen und küßte sie.
Franziska dachte nicht mehr an ihr eigenes Unwohlsein, das wohl nur durch die Angst und Aufregung der letzten Tage verschuldet war, sie pflegte ihren Gatten die ganze Nacht, und da es gegen Morgen nicht besser wurde, schickte sie zum Arzt.
„Ueberanstrengung natürlich! Hat zu toll gearbeitet. Pflegen Sie ihn nur gut, Seelchen, und halten Sie ihn hübsch in Ruhe und jede Aufregung fern. Dann kommen wir hoffentlich über den Berg.“ Der alte Hausarzt reichte Franziska die Hand, griff jedoch im nächsten Augenblick nach ihrem Puls und schaute ihr mit seinen großen runden Brillengläsern aufmerksam ins Gesicht. „Hm, hm – selber nicht ganz taktfest,“ murmelte er kopfschüttelnd. „Na – Ruhe, Ruhe, liebes Seelchen! Pflegt Euch nur alle beide, Ihr könnt’s ja haben!“ Damit ging er und ließ Franziska allein.
Zum erstenmal allein am Krankenbett eines geliebten Menschen! Ernst lag in unruhigem Halbschlummer, Franzel stand leise auf und zog die Vorhänge zu, damit die blendende Wintersonne den Schlaf des Kranken nicht störe. Dann saß sie regungslos am Fußende von Ernsts Bett, von Zeit zu Zeit nur die verordneten Eisumschläge erneuernd; und nun, in dieser beängstigend tiefen Stille, in dem freudlosen Halbdunkel des Krankenzimmers, kroch wieder die Sorge wie ein häßliches Gespenst über das zitternde Herz des jungen Weibes.
Ernst krank und sie – allein und hilflos mit ihrem doppelten Kummer! Sie war so fest entschlossen gewesen, ihm alles zu gestehen! Ja, sie hatte sich an diesen Gedanken des Bekennens schon wie an einen kommenden Trost geklammert – und nun war ihr auch der wieder genommen, und sie war allein!
„Allein“ – wie das Wort sie ängstigte! Sie hatte noch nie im Leben allein gestanden; nicht als Mädchen, wo die zärtliche Sorge der Eltern ihr alles Unangenehme, alles Traurige fernhielt, wo treue Hände sie vor jeder rauhen Berührung des Lebens hüteten; erst recht nicht, seit sie Ernst Wodrichs Gattin war. Wie hatte er sein junges Weib auf Händen getragen, wie war, seit ihrer Hochzeit, alles so klar, so licht, so sonnig gewesen, so reich an innerem Glück und tiefster Herzensbefriedigung! Und immer waren sie beide Hand in Hand gegangen; jede geringfügige Sorge, jede kleinste Kümmernis hatten sie geteilt, und Ernst hatte, bald scherzend, bald mit geduldiger Güte ihre zagende Seele davon befreit. Und jetzt, gerade jetzt, wo zum erstenmal der Ernst des Lebens an sie herantrat, stand sie allein, und ihre zitternde Hand suchte vergebens nach der gewohnten treuen Stütze.
Franzels Augen füllten sich mit Thränen, jenen Thränen, die langsam und vereinzelt fallen und wie Tropfen heißen Bleies in der Seele brennen, Thränen, die keine Linderung, sondern neuen Schmerz bringen.
Traurige Tage vergingen. Mit Wodrichs Befinden wurde es nicht besser und nicht schlechter; er dämmerte so dahin. Der alte Hausarzt konnte selbst nicht recht klar über das Wesen der
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_015.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)