Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Krankheit werden, machte sich indes auf den Ausbruch einer Gehirnentzündung gefaßt. Endlich, nach etwa zehn Tagen, trat eine Art von Krisis ein, und erleichtert atmete Doktor Böhmer auf. „Jetzt hätten wir das Schlimmste überstanden, sollt’ ich denken,“ meinte er beruhigend.
Inzwischen gingen die Dinge da draußen in der Welt ihren regelrechten Gang weiter, und eines Morgens erhielt Franziska die Vorladung vor das Schöffengericht und gleichzeitig einen Brief des Doktor Sonnenthal, worin er sie dringend ersuchte, recht pünktlich zu erscheinen.
Ein amtliches Schriftstück hat schon an und für sich etwas Aufregendes für eine Frau; sie betrachtet es mit Herzklopfen, als ein unheimliches Ding, von dem man nie wissen kann, ob es Gutes oder Schlimmes bringt. Und nun vollends dieser Brief! Dieser gefürchtete, in tausend Aengsten erwartete! In tiefster Niedergeschlagenheit saß die junge Frau vor ihrem eleganten, zierlichen Schreibtisch, studierte das verhängnisvolle Schreiben wieder und wieder, und ihr Herz hämmerte in dumpfer Angst. Da schlug die kleine Schwarzwälder Uhr neben dem Schreibtisch mit hellem Klang die zehnte Stunde, und Franzel, alles um sich her vergessend, sprang auf, um dem Patienten seine Medizin zu geben. Hastig schob sie die beiden Schriftstücke in ein Schubfach – der leere Umschlag von Doktor Sonnenthals Brief blieb unbeachtet auf dem Fußboden liegen.
Kopfschmerzen.
Der alte Streit über die Zunahme der Krankheiten mit der fortschreitenden Entwicklung der Civilisation ist auch heute noch nicht als beendet anzusehen. Eins ist ja sicher, daß das scheinbare Wachstum von Krankheitsfällen zum Teil in der gewissenhafteren Registrierung derselben seine Erklärung findet. Anderseits aber kann es dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß allerdings gewisse krankhafte Zustände, von denen früher nur vereinzelte Fälle in die Oeffentlichkeit drangen, sich heute in auffallender Weise zu mehren beginnen, eine Erscheinung, die man bei aller Sympathie für die Fortschritte der Neuzeit doch nicht umhin kann, gerade als ein Produkt dieser hohen Kulturstufe anzusehen. Ich spreche nicht von den verderblichen Einflüssen der zunehmenden Genußsucht, nicht von den aufreibenden Folgen der modernen Jagd nach dem Glück – Erscheinungen, wie sie im Alkoholismus, Morphinismus bezw. in dem Allerweltsleiden „Nervosität“ zu Tage treten. Es ist gewissermaßen nur ein Symptom, das mich hier näher beschäftigen soll, aber ein Symptom, dessen Machtsphäre sich von Tag zu Tag weiter ausdehnt und das eine wahrhafte Geißel der Menschheit zu werden droht – der Kopfschmerz.
Wer leidet heutzutage nicht an Kopfschmerzen? Der mit den verwickeltsten Problemen der Wissenschaft sich abmühende Gelehrte, der nach Reichtum und Ansehen lüsterne Finanzmann, der nach Ruhm und Ehre strebende Künstler, die ihre Tage mit Nichtigkeiten vertrödelnde Modedame nicht minder als der um das tägliche Brot sich abmühende Mann aus dem Volke und die geistig überbürdete und körperlich vernachlässigte Jugend – sie alle sind mehr oder weniger von jenem qualvollen, die Daseinsfreude erheblich verkümmernden Uebel heimgesucht. Dasselbe ist indessen, wie schon angedeutet, in keinem Falle eine Krankheit für sich, obgleich die daran leidenden Personen nur zu leicht geneigt sind, eine solche Vollgültigkeit für ihren Plagegeist in Anspruch zu nehmen, sondern bildet eben nur das hervorstechendste Symptom einer ganzen Anzahl sehr verschiedenartig gestalteter Grundleiden.
Diese Thatsache scheint aber, und nicht nur in Laienkreisen allein, mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Die moderne schnelllebige Welt hat nicht mehr Zeit und noch weniger Lust, den Gesamtstoffwechsel einer gründlichen Regeneration zu unterwerfen, sondern will nur von dem augenblicklichen Störenfried befreit sein. Und so wird nunmehr gegen denselben mit einer Anzahl giftiger Medikamente zu Felde gezogen – sehr zum Nachteil des Körpers, der zwar den verhältnismäßig harmlosen Peiniger zeitweise los wird, dafür aber eine Menge wirklicher Feinde sich zuzieht, die den Organismus früher oder später gänzlich untergraben.
Der Kopfschmerz ist nicht immer nur ein Zeichen einer einfachen allgemeinen oder örtlichen körperlichen Störung, sondern er stellt zuweilen ein Symptom eines ernsten organischen Leidens dar. So findet er sich bei Gehirnerkrankungen aller Art, bei Geschwülsten innerhalb des Schädels und ähnlichen lebensgefährlichen Zuständen. Doch bilden diese eine Gruppe für sich, die aus unserer Betrachtung ausscheidet. Was man im gewöhnlichen Leben mit Kopfweh bezeichnet, ist dagegen in den allermeisten Fällen bedingt durch die dauernde Einwirkung ungünstiger hygieinischer Verhältnisse auf den menschlichen Körper, zum kleineren Teil auch durch gewisse verhältnismäßig gefahrlose örtliche Erkrankungen einzelner Organe und Organteile. Es giebt in der gesamten medizinischen Wissenschaft kein Symptom, das in gleichem Grade das Merkmal einer so großen Anzahl der verschiedenartigsten Krankheiten ist wie eben der Kopfschmerz. Diese verwirrende Vielgestaltigkeit, dieser kaleidoskopische Wechsel in der Gruppierung der zu Tage tretenden Begleiterscheinungen dieses Symptoms machen zuweilen die Erkennung der Grundursache sehr schwierig – aber nicht unmöglich. Um nun auch dem Laien einen orientierenden Ueberblick über dies buntschillernde Bild zu verschaffen und ihm so einen Einblick in die etwaigen fehlerhaften persönlichen Beziehungen zu den Grundregeln einer hygieinischen Lebensweise zu ermöglichen, dürfte es am zweckmäßigsten sein, das fragliche Gebiet nach den erregenden Ursachen einzuteilen und der Betrachtung zu unterziehen.
Eine der häufigsten Ursachen der Kopfschmerzen ist die Blutarmut, beziehungsweise die Bleichsucht. Da diese Zustände sich vorzugsweise bei Frauen und Mädchen entwickeln, so leiden auch diese in erster Reihe an dieser Art Kopfweh. Aber auch das männliche Geschlecht liefert ein ansehnliches Kontingent zu obigen krankhaften Blutveränderungen, und so mancher Kopfschmerz bei schwächlichen Jünglingen und früh alternden Männern, der auf alle möglichen Schädlichkeiten bezogen wird, ist weiter nichts als der Ausdruck einer solchen anormalen Blutbeschaffenheit. Häufiger indessen ist diese Art Kopfschmerz bei allen jenen blassen weiblichen Personen, die auch sonst noch von einem Heer von Unpäßlichkeiten mannigfacher Art heimgesucht sind und deren fast ständigen Begleiter derselbe bildet. Er charakterisiert sich durch ein lästiges Klopfen und Hämmern innerhalb des Schädels, oft verbunden mit Ohrensausen und Schwindelanfällen. Die letzte Ursache dafür kann nur die Blutleere des Gehirns sein, denn die Schmerzen verschwinden bald oder werden wenigstens erheblich gelindert, wenn der Kopf niedrig gelagert wird, so daß mehr Blut nach demselben hinströmen kann (was zugleich als Unterscheidungsmerkmal gegenüber andersartigen Kopfschmerzen dienen kann).
Mit diesem Leiden ursächlich verwandt, auch in Bezug auf seine Vorliebe für das weibliche Geschlecht, ist die vielgenannte und vielgefürchtete Migräne, die meist nur eine Kopfhälfte einnimmt, wodurch sie sich von allen ähnlichen Zuständen unterscheidet. Das Leiden gilt, etwa wie die Gicht, für eine „vornehme“ Krankheit, kommt aber thatsächlich bei Leuten jeden Standes vor. Es tritt anfallsweise auf, oft ohne jede Gelegenheitsursache, ist aber auch oft die Folge von bestimmten, dem Befallenen meist wohlbekannten Vorkommnissen. So stellt sich das Uebel bei vielen nach einem Diätfehler, einer körperlichen Anstrengung, einer heftigen Gemütsbewegung (besonders Aerger), nach lebhaften Sinneseindrücken (grelles Licht, schrilles Geräusch) und dergleichen ein. Bei anderen hat der Besuch des Theaters, eines Konzertes, einer Abendgesellschaft dieselbe Folge. Der Anfall selbst kündet sich oft durch gewisse Vorboten an. Unlust- und Mattigkeitsgefühl, Verstimmung, Gereiztheit, Appetitmangel, oder er setzt gleich, meist morgens beim Erwachen, mit voller Heftigkeit ein. Dieser Kopfschmerz kann gleichmäßig andauernd, oft bis zur Unerträglichkeit sich steigern, er ist dem Orte nach am häufigsten linksseitig, nimmt zuweilen aber auch beide Kopfhälften zugleich ein. Auf der Höhe des Anfalls, nach Stunden bis Tagen, tritt Erbrechen ein, wonach der Schmerz allmählich verschwindet und einem ruhigen Schlaf Platz macht – um nach längerer oder kürzerer Zeit von neuem sich einzustellen. Die Migräne ist eines der hartnäckigsten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_016.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)