Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Briefe in einen Umschlag steckt, worauf groß und deutlich Name und Stand des Besitzers gedruckt steht; daß dieser Umschlag an und für sich schon, wie er offenkundig dalag, jeden Verdacht Lügen strafte; daß es sich eben lediglich um irgend eine geschäftliche Mitteilung des Rechtsanwalts Sonnenthal an Frau Franziska Wodrich handeln würde. Aber dieser Frau gegenüber war Aurelie eben blind, hellsehend nur für alles, was sie verdächtigen konnte – blind für jeden Beweis, der sie von häßlichem Verdachte freisprach.
Die Untersuchung des Schreibtisches gab Fräulein von Hagen auf, teils aus Furcht, überrascht zu werden, teils aus einem letzten Rest von Ehrgefühl, den in ihren Augen so verdächtigen Briefumschlag aber steckte sie in ihre Tasche. Kaum saß Aurelie wieder ruhig auf ihrem Platz, scheinbar vertieft in den Anblick eines Bildes – da wurde hastig die Thür geöffnet und Franziska trat herein.
Wie hatten die vergangenen Tage mit ihrem Leid die junge Frau verändert! Alles Blühende, Lebensvolle war wie fortgewischt aus dem schmalen, weißen Gesichtchen, tiefe Schatten lagen unter den müdblickenden Augen, ein Zug von Schmerz und Sorge umschattete den Mund. Die dunklen Haare waren rücksichtslos aus dem Gesicht gestrichen und mit nachlässiger Hast aufgesteckt: selbst die Farbe des prächtigen dunkelroten Schlafrockes trug heute nur dazu bei, die krankhafte Blässe des Gesichtes noch mehr hervorzuheben.
Franzel blieb sekundenlang an der Thür stehen, lebhafte Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht. Sie hatte nach der undeutlich geflüsterten Meldung des Mädchens geglaubt, die Rätin Lorenz sei da. Das war ihr nach dem vorhin erhaltenen Schreiben wie ein großer Trost erschienen, sie war gekommen, sich bei der alten Freundin ein wenig auszuruhen, den müden Kopf in ihren Schoß zu legen, sich liebe milde beruhigende Worte sagen zu lassen. Nun saß ihre Feindin dort und blickte ihr mit den großen grauen Augen so mitleidlos, so unheilverkündend starr ins Gesicht. Was wollte sie nur wieder von ihr, womit würde sie sie heute quälen? Franzel erschrak und dieses Erschrecken prägte sich deutlich auf ihrem von der strahlenden Februarsonne beleuchteten Gesichte aus.
Aurelie sah es. Das böse Gewissen, dachte sie, und triumphierend blitzte es in den kalten Augen auf. Sie stand auf und ging der jungen Frau entgegen.
„Wie geht es Ernst?“
„Besser,“ entgegnete Franziska in mattem Ton und ließ sich, von zahllosen Nachtwachen ermüdet, in einen tiefen Fauteuil nieder.
„Und das sagst Du so gleichgültig?“
Franzel bog den Kopf zur Seite, um nicht fort und fort diesen harten Blicken zu begegnen, die sich wie Dolche in ihr Gesicht bohrten. „Ich bitte Dich, Aurelie, quäle mich nicht mit solchen Redensarten!“
Fräulein von Hagen ließ ihr ein paar Sekunden Ruhe, dann examinierte sie weiter. „Was sagt Doktor Böhmer?“
„Die Krise ist überstanden. Geduld und Ruhe – dann wird alles gut werden,“ wiederholte Franzel mechanisch die Worte des Arztes.
Aurelie blickte sie wieder scharf an. „Mir scheint, Deine Gedanken sind ganz wo anders!“ Als keine Antwort erfolgte, änderte sie ihren Ton. Sie griff nach der Hand der jungen Frau, die kalt und schwer auf der Stuhllehne lag, und sagte mit erheuchelter Besorgnis: „Dir wird es auch zuviel, Kleine, Du solltest Dir mehr Ruhe gönnen. Ich könnte Dich ja einmal ablösen – wirklich, das könnte ich!“
Franziska, die nicht recht wußte, wo das wieder hinaus sollte, schwieg und zog leise ihre Hand zurück. Aurelie hatte sich unterdes ihren Plan zurechtgelegt und fuhr in harmlosem Plauderton fort: „Du solltest einmal hinaus, Franziska! Die Bekannten fragen schon alle nach Dir. Vorgestern war ich in einer Abendgesellschaft bei Webers; da wurde auch von Dir gesprochen, alle trugen mir Grüße für Dich auf. Kronecks waren da, Frau von Horndorff, Lieutenant Müller, Assessor Balduin und ein gewisser Doktor Sonnenthal, Rechtsanwalt –“ … Wie eine Spinne in ihrem Netz, die eine sorglose unbedachte Fliege draußen umhersurren sieht, beobachtete Fräulein von Hagen die junge Frau und notierte jeden Zug, jede leiseste Veränderung dieses blassen, unschuldigen Gesichtchens. Bei dem Namen Sonnenthal hob Franzel überrascht die Augen und sah ihres Mannes Cousine an, groß, offen – doch mit einer ganz leisen Beimischung von Angst.
„Verkehrt der auch bei Webers? – Das wußte ich nicht,“ bemerkte sie unwillkürlich.
Aureliens Augen blitzten schadenfroh – die kleine unvorsichtige Fliege streifte thatsächlich schon das verderbenbringende Netz.
„Kennst Du ihn denn?“ fragte sie mit scheinbarer Ruhe zurück. Wehe Dir, wenn Du jetzt leugnest! dachte sie im stillen.
Franzel bejahte – aber sie that es mit einem schwachen Erröten und einem unruhig fragenden Blick ihrer klaren braunen Augen. Jenes Erröten galt nicht dem Mann, der sie einst angebetet, es galt einzig dem Rechtsanwalt, den Frau Franziska Wodrich in einer heimlichen Angelegenheit besucht. Natürlich wurde dies thörichte Erröten bemerkt, und ebenso natürlich wurde es auf ganz andere Art gedeutet!
„Ein angenehmer Mensch, dieser Doktor Sonnenthal,“ bemerkte Aurelie kaltblütig, obgleich sie den Besprochenen in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. „Du hast ihn wohl schon früher gekannt?“
„Ja,“ erwiderte Franzel wahrheitsgemäß. „Ich kannte ihn vor meiner Verheiratung, als ich bei der Rätin Lorenz zum Besuch war. Apropos, war die Tante Lorenz nicht bei Webers?“ fragte sie hastig, in der Hoffnung, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Aber darin war sie ihrer weltgewandten Gegnerin nicht gewachsen, die lächelte ein wenig von oben herab über Franzels kindliches Bemühen - dann sagte sie kurz. „Nein, sie war nicht da. Uebrigens, wie komisch, Franziska, daß Du sagst, Du hättest diesen Doktor Sonnenthal früher gekannt – kennst Du ihn denn jetzt nicht mehr? Warum verkehrt er nicht bei Euch? Ernst kennt ihn doch sicher? – Und hast Du ihn seitdem nie wieder gesehen?“
Diese sich überstürzenden Fragen waren ganz danach angethan, die junge Frau zu verwirren, und das war ja auch ihr einziger Zweck.
„O doch …“ stammelte Franzel, und wieder überzog ein flüchtiges Rot ihre klare Stirn. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich hier wie ein dummes Schulkind von Aurelie ausfragen ließ, von all der körperlichen und geistigen Uebermüdung der letzten Wochen war sie so schwach, so widerstandslos und deshalb gänzlich unter dem Bann dieser scharfen, unbarmherzigen Augen. Aber jetzt raffte sie sich mit einem letzten Rest von Energie auf, zerriß tapfer die feinen, mitleidlosen Fäden des Spinnennetzes, das sie umwand, und sagte mit erzwungener Munterkeit: „Du scheinst Dich ja sehr für den Doktor Sonnenthal zu interessieren, Aurelie! Sonst wüßte ich wirklich nicht, weshalb Du mich seinetwegen so scharf examinierst? Was ist denn Verwunderliches dabei? Wir lernten uns früher flüchtig kennen – aber da Ernst ihn nicht kennt, und wir ihn auch nirgends trafen, so ist’s doch natürlich, daß er nicht bei uns verkehrt. Uebrigens – ich muß jetzt wieder hinübergehen – Du entschuldigst mich wohl!“ Sie war aufgestanden und reichte dem unliebsamen Besuch flüchtig die Hand.
Fräulein von Hagen war außer sich, daß „die schlaue kleine Person“ ihr auf diese Weise entschlüpfen wollte. Aber noch einen letzten Hieb mußte sie ihr geben, so trat sie dicht an Franziska heran und sagte, sie scharf fixierend: „O, ich wollte Dich nicht aufregen – das geht mich ja auch weiter nichts an! Ich dachte nur,“ meinte sie mit spöttischer Betonung, „Du hättest ihn vielleicht ‚zufällig‘ getroffen, als Du neulich mit Frau Lorenz bei ihrer ‚Nichte‘ warst. Die wohnt ja doch im selben Hause. Apropos, wie heißt denn die Dame?“
Beide standen jetzt neben der Thür, Fräulein von Hagen hatte die Hand auf die Klinke gelegt und versperrte so gewissermaßen der jungen Frau den Ausweg.
Franzel war heftig zusammengefahren und dunkelrot geworden, vorbei war’s mit ihrem Stolz, mit ihrer mühsam errungenen Fassung, unsicher stammelte sie: „Im selben Hause? … Ja – hast Du uns denn gesehen?“ Und da keine Antwort erfolgte, sondern Aurelie sie immer noch ansah, mit Blicken, die ihr Herz und Seele zu durchforschen schienen, that die arme kleine Fliege in ihrer großen Angst das Thörichtste, was sie nur thun konnte. sie gab sich völlig in die Gewalt ihrer mitleidlosen Feindin, indem sie halb weinend, halb trotzig sagte: „Wenn Du denn doch schon alles weißt – ja, wir waren bei Doktor Sonnenthal, Frau Lorenz und ich. Ich … wir hatten dort geschäftlich zu thun. Etwas anderes wirst Du hoffentlich von mir nicht denken! Im übrigen handelt es sich um ein Geheimnis, und ich bitte Dich dringend, zu
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_031.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)