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Seite:Die Gartenlaube (1895) 032.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

keiner Seele darüber zu sprechen. Am wenigsten Ernst gegenüber. Es würde ihn furchtbar aufregen …“

„Das glaube ich!“ bemerkte Aurelie höhnisch.

„Aurelie, ich bitte Dich, Du kannst nicht etwas Schlechtes von mir denken,“ sagte Franzel flehend.

„Was ich von Dir denke, ist meine Sache“ – damit öffnete Fräulein von Hagen die Thür und war draußen, ehe Franzel ein einziges Wort erwidern konnte. Sie wollte ihrer Feindin nacheilen, aber es ging nicht, sie war mit ihrer Kraft zu Ende und sank völlig erschöpft gegen die Thür; ein dumpfes Brausen war vor ihren Ohren, rote Lichter sprangen blendend und grellfarbig vor ihren Augen auf und nieder, ihre Glieder wurden schwer wie Blei – sie wollte sich festhalten, aber die Sinne vergingen ihr, langsam und schwer glitt sie neben der Thür zu Boden. – –

So fanden ihre Dienstleute sie. Als Franziska zu sich kam, lag sie auf dem Sofa; Doktor Böhmer, der glücklicherweise um diese Zeit seinen Besuch bei Ernst machte, saß neben ihr und fühlte ihren Puls. Er gab ihr starken Wein zu trinken, stützte ihr vorsorglich den Kopf, und als er glaubte, sie hätte sich genügend erholt, um seine Rede würdigen zu können, sagte er gewichtig: „So geht’s aber nicht weiter! Wenn Sie nicht vernünftig sind, kleine Frau, werden wir bald zwei Patienten anstatt des einen haben. Daß Sie keine Pflegerin wollen, ist barer Unsinn! Ich schicke heute mittag eine graue Schwester, und der werden Sie in allen Stücken gehorchen. Punktum! – Verstanden?“

Franzel nickte schwach. Sie sah ja selber ein, daß der alte Herr recht hatte. Sie mußte sich mehr schonen, sonst würde sie wirklich noch krank werden; und sie mußte, ja sie mußte doch gesund sein, um zu jener schrecklichen Gerichtsverhandlung gehen zu können! Käme sie nicht, so würde sie mit Gefängnis bestraft, so stand’s ja auf dem Papier, das in ihrem Schreibtisch lag. Ach, wenn sie doch lieber vorher sterben und so all der Angst und Schmach entgehen könnte! Aber es stirbt sich nicht so leicht, wenn man jung und gesund ist. Sie mußte also hin, da gab’s keinen Ausweg – und niemand konnte ihr helfen! Der Gedanke, sich dem Doktor, dem alten Hausfreunde, anzuvertrauen, schoß ihr durch den Kopf. Aber nein! Der würde es wahrscheinlich für seine Pflicht halten, sobald Ernst sich etwas erholt hätte, dem alles zu sagen; und Ernst sollte doch nichts wissen, bis alles überstanden war. Sie mußte also stark und tapfer sein, das Schreckliche jetzt allein tragen und dann allein durchleben. Sie hatte Ernst doch so grenzenlos lieb, sie wollte ihm um jeden Preis alles ersparen, die Demütigung, die Aufregung, die Angst! Ein schwerer Seufzer kam über die blassen Lippen, Thränen standen in den schönen angstvollen Augen des jungen Weibes.

„Was giebt’s da zu weinen?“ fragte Doktor Böhmer barsch, dem Weiberthränen in der Seele zuwider waren, weil sie ihn ganz unnötig weich machten. „An allem ist nur die dumme Person, die Hagen, schuld. Sitzt da und schwätzt Ihnen eine Stunde lang vor, anstatt Sie sich ausruhen zu lassen, wie ich Ihnen befohlen. Ich kenne das Frauenzimmer, sie hat so ein aufregendes Organ, das gesunden Leuten schon auf die Nerven fällt – geschweige denn solch einem abgearbeiteten Seelchen! Hier, trinken Sie!“ gebot er und hielt ihr wieder das gefüllte Glas an die Lippen. „Was haben wir denn heute schon verzehrt, he? Na, na, keine Flunkereien – kann mir’s ja lebhaft genug denken.“ Er ging an die Thür und rief nach der alten Köchin. „Rieke, Sie sind ja eine vernünftige Person,“ sagte er gnädig. „Was ißt denn Ihre Frau gern? Rehrücken oder so was dergleichen? Wiener Schnitzel? So – na, da braten Sie ihr ’mal ein Schnitzel – so zart und weich und saftig, daß es einem auf der Zunge zerfließt, Sie wissen schon! Und Besuche weisen Sie ein für allemal ab …“ Er rieb sich nachdenklich die Nase und überlegte, ob er Fräulein von Hagen noch besonders aufzählen solle, glaubte es indes der Familie schuldig zu sein, die nahe Verwandte stillschweigend in sein Verbot einzuschließen. So fügte er nur noch mit drohend erhobenem Finger hinzu: „Jeden Besuch, verstehen Sie mich?“ und entließ das Mädchen. Hätte der gute Doktor ahnen können, welch schwere Folgen diese zarte Rücksichtnahme auf die Familie Wodrich herabziehen würde, er hätte der Küchenregentin in seiner drastischen Art sicherlich noch mit Stentorstimme nachgerufen: „Und vor allem, in Dreiteufelsnamen, lassen Sie mir das Fräulein von Hagen nicht herein!“ – so aber beglückwünschte er sich im stillen ob seines feinen Taktes, schärfte seiner Patientin nochmals ein, der grauen Schwester unbedingt zu gehorchen, und verließ das Haus.

Sobald Ernst wieder bei klarem Bewußtsein war und anfing, sich ein wenig zu erholen, war er voll zarter Fürsorge für seine Frau. Ob Rieke auch recht gut für sie kochte, und ob sie auch ordentlich äße, fragte er die brave alte Person wohl zehnmal, und dem Doktor, der grauen Schwester legte er’s jeden Tag aufs neue ans Herz, seine Frau zu pflegen, sie zu schonen. Entschieden war Franziska jetzt der leidendere Teil von beiden. Im selben Maß wie bei Ernst die Besserung zunahm, wandten sich Franzels Gedanken und Sorgen nun wieder dem zu, was wie ein unabweisbares Verhängnis vor ihr stand, durch ihres Gatten Krankheit scheinbar in weite Ferne gerückt, jetzt aber langsam, mit peinvoller Grausamkeit näher und näher kommend. Fragen ohne Ende stürmten auf sie ein und ängstigten sie. Sie, die noch nie einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, machte sich ein wahrhaft grausiges Bild davon. Sie sah sich selber auf der Anklagebank sitzen – nach Franzels vagen Begriffen ein Platz, wo sie mit Taschendieben, Landstreichern und ähnlichem Gesindel in engste Berührung kam; sie sah sich dort sitzen, gedemütigt, entehrt – die Augen aller auf sich gerichtet, dann stand sie vor den Richtern, die Hand zum Schwur erhoben. Auch das war für sie etwas Furchtbares; sie erinnerte sich noch deutlich aus der Religionsstunde, wie heilig solch ein Eid sei, welch’ ungeheure Verantwortung der Schwörende auf seine Seele lüde – und sie zitterte vor Angst. Ob sie wirklich schwören müßte? Und ob diese ganze unheilvolle Geschichte wohl einen Makel auf ihres Mannes Namen und Leben werfen könnte?

Solche Fragen ließen ihr keine Ruhe; je näher der festgesetzte Tag rückte, desto rastloser ward sie, und endlich, da sie an all der heimlichen Qual zu ersticken meinte, beschloß sie, die alte bewährte Freundin aufzusuchen, sich bei ihr ein wenig Trost zu holen – endlich einmal wieder ihr gequältes Herz auszuschütten. Sie überließ ihren Gatten der pflegenden Schwester und ging trotz des eisigen Ostwindes, der ihr fast den Atem benahm, zu Fuß den weiten Weg zu der Rätin.

Frau Lorenz hatte sich lange nicht sehen lassen; sie war durch heftigen Rheumatismus selber ans Haus gefesselt gewesen und freute sich nun doppelt, die junge Freundin zu sehen und von ihr gute Nachrichten über Ernst Wodrichs Befinden zu hören.

„Aber Du selber siehst jämmerlich aus, Franzel,“ sagte die alte Dame mitleidig und rückte für ihren Liebling einen bequemen Stuhl vor den großen Kachelofen, von dem ein warmer, heller Feuerschein ausging, der dem freundlichen Zimmer ein um so gemütlicheres Ansehen gab. Wie der Sturm heulend im Schornstein rumorte und die glühenden Kohlen zuckend aufflammten und rote Irrlichter über Fußboden und Wände entsandten, und wie das ganze Zimmer dabei von einem feinen weichen Rosenduft aus irgend einem altmodischen Riechbüchschen erfüllt war – das alles kam Franziska instinktiv zum Bewußtsein. Die unendliche Behaglichkeit dieses stillen Witwenheims legte sich wohlthuend und sänftigend auf ihre erregten Nerven. Sie kauerte sich fröstelnd in Tante Rätins Sorgenstuhl und schaute auf die Glut, und ihr war, als wäre alle Not und Unruh’ draußen zurückgeblieben, draußen auf den Gassen, wo der Sturm sein unwirtlich Wesen trieb – und hier drinnen sei nichts als Frieden und Ruhe!

Frau Lorenz war leise hinausgegangen, und als sie nun wiederkam und ein feines Schälchen mit duftendem Thee neben ihren Gast hinstellte, da griff Franzel nach dieser lieben, mütterlichen Hand und drückte sie inbrünstig an ihre Lippen.

„Tante Lorenz, bei Dir ist Friede – aber ich …! O Gott, mir ist so bange, so schrecklich bange“, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen.

„Mut, mein Herzel, Du warst ja bis jetzt so tapfer!“ tröstete die alte Dame und streichelte das blasse kalte Gesichtchen. „Was giebt’s denn jetzt wieder? Sprich Dich doch aus, Franzel!“

Und nun kamen all’ die Fragen und Zweifel zum Vorschein: die schreckliche Anklagebank, der Schwur und all das andere, was Franzels Herz bedrückte.

Die Rätin hörte teilnehmend zu; viel Rat oder Trost wußte sie freilich auch nicht zu spenden. Sie hatte ebensowenig wie Franziska je einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, uneingestanden fürchtete sie sich selber vor der Zeugenschaft, die sie mit innerem Widerstreben übernommen. Schweigend und nachdenklich sah sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1895, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_032.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
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