Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
|
Nr. 3. | 1895. | |
Buen Retiro.
(2. Fortsetzung)
Der helle Sonnenschein, der kleine spitze Goldpfeile durch die geschlossenen Vorhänge der Villa schickte, weckte deren Besitzer aus tiefem erquickenden Schlaf. Er kleidete sich rasch an und machte sich sofort an seine wissenschaftliche Arbeit. Er hatte einen guten Tag heute. Sein Gedächtnis gehorchte ihm willig, er brauchte niemals nachzuschlagen, um sich eines Namens, einer Zahl zu versichern, auch sein Stil, mit dem er durchaus nicht immer zufrieden war, genügte heute den Ansprüchen, die er an ihn stellte. Das Frühstück wurde von ihm hastig „nebenher“ verzehrt, er sah und hörte nichts anderes als seine eigenen Gedanken und das Geräusch seiner schreibenden Feder, die ihm nicht schnell genug vorwärts kam, und hatte die Anwesenheit eines weiblichen Wesens unter seinem Dach gänzlich vergessen.
Als dann seine ermüdete Hand und die zum offenen Fenster hereinströmende rasch zunehmende Wärme ihn zum Ruhen zwang, fiel ihm freilich sein neuer Gast ein, und er empfand es mit Beschämung, sich so gar nicht um ihn gekümmert zu haben. Was mußte die junge Frau nur von ihm denken? Er sprang eilig auf und ging in den Garten hinaus, in der Erwartung, sie dort zu finden.
Sie kam ihm unter den schönen alten Lindenbäumen entgegen, blaß und schlank, in einem schlichten grauen Kleide noch mädchenhafter aussehend als gestern. Sie machte einen vornehmen Eindruck, wie sie jetzt langsam daherkam, ein weißes Schirmchen über die Schulter zurückgelehnt. Aber wieder war der vorwiegende Ausdruck in ihrem Gesicht der einer fast hoffnungslosen Müdigkeit, einer Resignation, die nichts mehr von Welt und Leben erwartet, und dieser Zug bildete einen schneidenden Gegensatz zu ihrer zarten Jugend.
„Guten Morgen,“ sagte Röder herzlich und schüttelte das feine Händchen, das sie ihm reichte, „und zugleich ein pater peccavi! Ich bin ein großer Sünder gewesen, ich habe der guten Sitte der Gastfreundschaft und meiner angeborenen Höflichkeit einen Schlag ins Gesicht gegeben, indem ich mich jetzt erst um Sie kümmere und nach Ihrem Befinden frage. Verzeihen Sie es mir, Frau Gabriele! Die Arbeit gelang mir heute gut und hielt mich ungebührlich lange am Schreibtisch fest.“
„Sie dürfen sich durchaus nicht bei mir entschuldigen,“ entgegnete sie, und ihm fiel der Wohlklang ihrer Stimme und eine fremdartige Aussprache des Deutschen auf, „ich bin sehr spät aufgestanden und habe lange in meinen Siebensachen herumgestöbert, dann Ihren schönen Garten angesehen! Und haben wir es nicht ausdrücklich festgesetzt, einander nie zu genieren? Sie sollen jederzeit Ihre Wege gehen, als sei ich gar nicht da, – ich – ich – mache es ähnlich, und dann ist’s gut. Ja?“
Er musste lächeln. „Abgemacht! Brieflich und mündlich erledigt!“ Sie reichten einander von neuem die Hand. „Und nun Ihr Befinden! Wie haben Sie geschlafen?“
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Von meinem Befinden und meinem Schlaf ist nichts Gutes zu berichten. Ich schlafe manche Nacht kaum drei Stunden, und diesmal, glaub’ ich, ist’s noch weniger gewesen. ‚Klägliche Nerven‘, sagte mein Arzt in Bremen, und kläglich sind sie auch. Ich kann nichts thun!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_037.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)