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Seite:Die Gartenlaube (1895) 203.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„So, so!“ meinte Volkhard. „Ja, da begreife ich schon warum er keine Zeit hatte, sonstige Ritterdienste zu thun. Na – trinken wir jetzt noch eins, Hachinger!“




Obwohl Fräulein Toni Burghofer im allgemeinen sich eines guten zehnstündigen Schlafes erfreute und im besondern Ursache gehabt hätte, ihn am Morgen nach dem Ball bis Mittag fortzusetzen, fuhr sie doch, als kaum das erste Tagesgrau zwischen den Vorhängen hereinfiel, auf, als ob sie jemand gerufen hätte, und öffnete ihre Augen mit dem Gefühl wie die Kinder am Weihnachtsmorgen. Und da stand es denn auch gleich wieder klar und hell, was ihr letzter Gedanke beim Einschlafen gewesen war: das neue schwindelnde Glück und die Erwartung, was nun heute noch folgen werde. Am liebsten wäre sie mit gleichen Füßen aus dem Bett gesprungen, um sich anzuziehen, nur die Erwägung, daß an diesem Ausschlafemorgen auch die Küchengeister einer ziemlich verlängerten Ruhe pflegen würden, hielt sie zurück. So kreuzte sie denn die Arme unter dem Kopf und gab sich, warm und behaglich in ihrem Nestchen liegend, den lieblichsten Zukunftsträumen und Erinnerungen an gestern hin. Alles lebte sie noch einmal durch: die heimlichen berauschenden Blicke und beziehungsreichen Worte, den Augenblick, wo Pereda sie einem andern, der gerade mit ihr tanzen wollte, sozusagen aus den Armen wegnahm und, sie stürmisch an sich drückend, im Triumph mit ihr dahinflog – und dann dachte sie wieder an jenen Kuß in der Grotte, durch welchen er sie für immer zu der Seinigen gemacht hatte, und fühlte neu den süßen Schauer durch ihre Nerven rieseln.

So vergingen ein paar Stunden zwischen wachen und wirklichem Träumen, endlich schlug es halb zehn Uhr, und aus dem Treppenhaus drang ein kräftiges, frühstückverheißendes Rumoren. Flink schlüpfte Toni aus dem Bett, plätscherte wohlig im frischen Wasser herum, zwängte die braunen Kraushaare unter ein Häubchen und stieg endlich, mit einem netten Morgenkleid angethan, die Treppe hinunter. Im Eßzimmer fand sie noch niemand vor als den Sonnenschein, der zwischen den schneebelasteten Zweigen draußen vom blauen Himmel hereinfiel und den behaglich warmen Raum mit seinem Licht erfüllte. Die dunkeln Eichenschränke, die alten Bilder und Gobelins, alles sah heute so besonders hübsch aus und Toni betrachtete, an dem gedeckten großen Tisch sitzend, diese ganze prunklose Apartheit, als sähe sie sie zum erstenmal. Sie rückte eine Schale mit italienischen Anemonen, welche zwischen dem Frühstücksservice stand, ins volle Sonnenlicht und dachte, während sie die hübsche Wirkung der bunten Farben zwischen dem blauen Porzellan und den Silbergeräten beobachtete: So muß es auch einmal bei uns aussehen! Mit dem angenehmsten Behagen machte sie sich dann daran, den von dem Mädchen gebrachten Theekessel anzuzünden und eine kleine Kanne für sich zu füllen, da von den Andern doch noch nichts zu merken war.

Auf dem Tisch lag die Morgenzeitung. Toni entfaltete sie und sah auf die dritte Seite. Richtig! – da stand bereits das ganze Künstlerfest schwarz auf weiß. Neugierig vertiefte sie sich in die langen Spalten und genoß, nachdem der erste Schrecken über ihre hier mit Vor- und Zunamen in die Oeffentlichkeit geratene Person überwunden war, mit großer Befriedigung die schönen Worte, welche der Herr Zeitungsschreiber zu deren Preis gefunden hatte. Wieder und wieder las sie den Absatz – das, was von andern handelte, bekümmerte sie nicht besonders – und als sie ihn ziemlich auswendig wußte, legte sie das Blatt nieder, um sich nun das Frühstück schmecken zu lassen. Dabei fielen ihre Augen auf einen Brief, welchen vorhin die Zeitung verdeckt hatte, und sie erschrak. Von Lorenz! …

Es gab ihr einen gewissen Stoß, als sie die Handschrift erkannte. Was hatte er ihr jetzt noch zu schreiben, nachdem ja, was? … sein Brief war ja noch unbeantwortet! … O Himmel, wie hatte sie nur das so ganz vergessen können! … Und jetzt, nach gestern abend vollends, jetzt wird er schön wild sein! … Sie hielt das blaue Couvert unschlüssig ein paar Augenblicke in der Hand, endlich schnitt sie es mit dem Frühstücksmesserchen auf und las:

 „Geehrtes Fräulein!

Sie sind mir noch die Antwort schuldig auf meinen Brief, den ich Ihnen in gutem Glauben vor acht Tagen geschrieben habe. Aber es brauchts jetzt nicht mehr, daß Sie antworten, was ich heute nacht habe sehen und erleben müssen und erst gar nicht glauben konnte, das zeigt mir, daß Sie jemand ganz anderes sind als die Burghofer Toni, an welche ich den Brief geschrieben habe. Ich ersuche Sie also, denselben als ungeschehen zu betrachten.

 In aller Achtung
 Lorenz Käsmayer.“

Doni saß regungslos mit dem Blatt in der Hand. Eine heiße Röte stieg ihr in die Stirne empor und dabei war es ihr ganz so zu Mute wie früher, wenn sie in der Schule einmal etwas recht Arges angestellt hatte. Nach einigen Augenblicken versuchte sie zwar mit einem verächtlichen Pah! über den hingeworfenen blauen Bogen zu anderem überzugehen, goß sich Rahm ein, strich Brötchen und begann zu frühstücken, las auch jetzt den ganzen Festbericht von Anfang bis zu Ende aufmerksam durch, aber das bewußte Gefühl wich nicht und Toni war recht froh, als jetzt die beiden Mädchen mit dem Kleinen hereinstürmten und die Eltern ihnen nachkamen. Frau Resi hatte den Gatten mit Gewalt aus dem Bette geholt, weil ein fürstlicher Besuch heute zu erwarten war. Der betreffende Standesherr, ein großer Freund der Kunst und warmer Bewunderer von Volkhards Bildern, hatte dessen persönliche Bekanntschaft gestern gemacht und sich im Bierstübel mit ihm festgekneipt, dann war er zu Frau Resi gegangen, um ihr sein Entzücken über Volkhards urwüchsige Derbheit auszusprechen. „Ich muß Ihr berühmtes Haus auch sehen,“ hatte er hinzugefügt, „und das Atelier – alles! Kann ich morgen kommen – sagen wir um zehn Uhr?“

„Ja, Durchlaucht,“ hatte die schöne Frau sehr gemütsruhig geantwortet, „kommen können Sie schon, aber Sie finden ihn halt dann noch im Bett.“

Der Fürst hatte sehr gelacht und dann seinen Besuch auf elf Uhr verschoben. Aber noch später dürfte es nicht werden; er müßte um ein Uhr schon abreisen!

Dieser in Aussicht stehende Besuch nun nahm die Gedanken des Ehepaars ziemlich ausschließlich in Anspruch, so daß nicht viel für die Erinnerung von gestern übrig blieb. Der Fürst war sehr reich und ein guter Käufer, sein Besuch hatte also größere Wichtigkeit als der mancher andern hochgestellten Schaulustigen. Es wurde hastig gefrühstückt, dann verschwand Frau Resi, um eine ihrer raffinierten Besonderheitstoiletten zu machen, und Volkhard nahm nach ein paar kurzen Bemerkungen gegen Toni die Zeitung vor. Hachinger kam und sah seine Hoffnung auf einen gemütlichen Ballschwatz getäuscht, denn Toni entschwand gerade durch die andere Thüre, der nachkommende Scholz wartete gleichfalls umsonst auf das Wiedererscheinen der Damen und beide zogen nach einer Viertelstunde miteinander ab.

Wieder klingelte es und wieder. Droben am Treppengeländer stand Eine und beugte sich jedesmal vor, um hinabzusehen. Aber der Erwartete kam nicht.

„Er wird auch ausschlafen,“ dachte sie, „und wird denken, wir thun es ebenfalls. Heute nachmittag! …“

Der das nächste Mal klingelte, war der Fürst, und sie mußte mit den Kindern in den Salon zur Vorstellung. Daß es ein ganz einfach aussehender junger Mann war und so ohne Umstände sprach und lachte wie andere auch, gewährte Toni eine große Beruhigung, denn nun getraute sie sich, herzhaft zu antworten. Daß sich aber offenbar kein Erinnerungsband zwischen ihrem heutigen Gesicht und der gestrigen „Phantasie“ knüpfte, das fand sie doch, aufrichtig gesprochen, unbegreiflich!

Es war auch nicht schön von Resi und Volkhard, daß sie gar nichts darüber sagten.

Letzterer machte statt dessen den Besucher auf seinen größten Schatz aufmerksam. Es war dies ein stark nachgedunkelter Tizian, der in schwerem Prachtrahmen über dem Kamin hing, eine flüchtige Studie zum Porträt Karls V., „schreckbar garstig“, wie Toni im stillen das bleiche Gesicht im dunkeln Sammetpelz bezeichnete. Die Durchlaucht wagte es, derselben Ansicht Ausdruck zu geben.

„Das muß ich nun ehrlich sagen, daß mir Ihre Bilder viel besser gefallen, lieber Herr Volkhard,“ sagte er lachend.

„Das zeigt nur, daß Sie gar nichts davon verstehen, Durchlaucht!“ erwiderte jener mit der größten Unbefangenheit.

„O, er ist köstlich!“ rief der hohe Herr voll Vergnügen. „Zur Strafe zeigen Sie sie mir jetzt gleich samt und sonders, Ihr ganzes Atelier mit allem, was darin ist.“ Er zog die Uhr. „Noch eine halbe Stunde! Begleiten Sie uns, gnädige Frau?“

Und die Drei stiegen die Treppe zum Atelier hinauf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_203.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
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