Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Nr. 14. | 1895. | |
Haus Beetzen.
Es ist ein Abend zu Ende des Oktober, regnerisch, kalt und
windig, ein Abend, der den Bäumen des Parkes und des angrenzenden
Waldes den letzten mühsam festgehaltenen Schmuck vergangener
Sommerlust raubt. Morgen werden die Purpurblätter des
wilden Weines und das goldene Land der Birken und Buchen verweht
sein und die Bäume nur noch kahle Aeste in die Luft recken,
und dann wird’s nicht mehr lange dauern, so ist der November
da, der trübe, todestraurige Monat, der über die Erde zieht mit
nebelgrauen schleppenden Gewändern, gebückt und finster, in seinem
Gefolge Mißmut und Krankheit –. Ach, wie traurig, dann hier
zu sitzen im Herrenhause von Beetzen so allein – so ganz allein.
Arme Ditscha!
Sie wendet den Kopf zurück. Draußen sind allmählich die Umrisse der Bäume verschwunden in dem Regendunst und der Dämmerung, aber was thut’s? Sie kennt den Blick von dem Fenster ihres Zimmers genau, so genau wie das Zimmer selbst mit seiner altväterlichen Einrichtung, wie das ganze Haus und wie die Insassen dieses Hauses vom Onkel und von den Tanten an bis herab zur Köchin, dem bärbeißigen alten Kutscher und dem asthmatischen pensionierten Jagdhund Namens Cäsar.
Ach ja, es ist ihr alles unglaublich vertraut und bekannt hier im Hause, und alles so unglaublich regelmäßig, langweilig und öde; ein Tag wie der andere. Zuerst des Morgens gemeinschaftliche Andacht, welche Tante Anna hält; zuweilen liest sie Betrachtungen aus einem geistlichen Buche vor, zuweilen redet sie auch frei über eine Bibelstelle, die sie selbst auswählt – das ist, wenn irgend eine Person des Hauses irgend etwas gethan oder unterlassen hat, das sich mit Tante Annas strengen Ansichten nicht verträgt.
Der Onkel pflegt in solchen Fällen sein joviales Angesicht in seltsame Falten zu ziehen. Ditscha vermeidet es, ihn anzusehen, denn sie bekommt Anwandlungen zum Lachen, und die Sache ist doch so ernst und Ditscha so fromm; sie hat den reinen ehrfürchtigen Gottesglauben ihrer achtzehn Jahre. Sie kann auch die andern nicht ansehen, Onkels Frau, die Tante Bertha, nicht, die während des Betens an ihren Haushalt denkt oder an ihren ewig gleichbleibenden Kummer und regelmäßig nervös zusammenfährt, wenn Tante Anna mit hoher Stimme anhebt zu singen „Unsern Ausgang segne Gott!“ Und die Köchin nicht, die gewaltsam andächtig aussieht mit zum Himmel gerichteten Augen.
Mit „Unterthänigen guten Morgen!“ empfehlen sich dann die Leute, und die Herrschaft geht zum Frühstück. Der Onkel liest die Zeitung, Tante Bertha das Wirtschaftsbuch und Tante Anna starrt, während sie mechanisch ihr Butterbrot in den Kaffee tunkt, auf einen Fleck; kein Mensch spricht ein Wort.
Nun muß Ditscha Staub wischen, wozu Tante Bertha ihr ein Paar ausrangierter wildlederner Handschuhe vom Onkel verehrt hat, damit ihre Hände nicht leiden, denn an den Händen erkennt man die wirkliche Dame, und dann übt sie Klavier, schwere ernste Musik; Tante Anna, die ihr Unterricht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_221.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)