Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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es ist die Idealfigur des Goetheschen Dramas, eine wunderbare Verschmelzung der geschichtlichen Gestalt des Helden mit der des Dichters selbst, der jene frei aus dem eigenen Geiste wieder erzeugte. Aber der geschichtliche Tasso steht dem der Dichtung an tragischem Interesse kaum nach. In dieser Dichternatur erscheint das gewaltige Gähren und Ringen eines Jahrhunderts, zwischen Altem und Neuem, zwischen Geistesknechtung und Freiheit personifiziert, und wenngleich es dem Scharfsinn der Tassoforscher noch immer nicht gelungen ist und vielleicht niemals ganz gelingen wird, den Schleier vollkommen zu lüften, der das innere Leben dieses Mannes deckt, so gehört doch Tasso zu jenen Persönlichkeiten, zu denen man sich, je mehr man in ihr Wesen eindringt, – vielleicht gerade deshalb, weil etwas Unerklärliches, etwas Großartig-Geheimnisvolles in ihnen waltet, – desto mehr hingezogen fühlt.
In Sorrent, jenem lieblichsten Orte der Südküste des Golfs von Neapel, das durch so manchen berühmten Namen mit der Geschichte italienischer Kunst verknüpft ist, stand auf einer hohen, schroff aus dem Meere aufsteigenden Felsenwand das Haus, in welchem Torquato, als Sohn des Dichters Bernardo Tasso, am 11. März 1544 zur Welt kam. Die stille Sehnsucht nach diesem Orte seiner glücklichen Kindheit, den Citronen- und Orangenhainen, in denen er zu spielen pflegte, nach den milden Lüften, dem klaren, tiefblauen Himmel und dem Silberglanz des leuchtenden Meeres hat ihn später oft, inmitten der rauschenden Festlichkeiten an den Fürstenhöfen, die ihn gastlich aufnahmen, schwermütig gestimmt. Auch hat die traute Heimat ihm später nach langer Abwesenheit, als düstere Schatten schon längst sein Gemüt umlagerten, noch einmal freundliche Aufnahme gewährt und an dieser lachenden Meeresküste sich das letzte kurze Intermezzo von Glück und Frieden im Leben des unglücklichen Mannes abgespielt.
Bei den Jesuiten in Neapel erhielt Torquatillo, wie ihn der Vater mit Vorliebe zu nennen pflegte, den ersten Unterricht. Aber je mehr die Patres die hohen geistigen Eigenschaften, die in dem Knaben schlummerten, erkannten, um so mehr bemühten sie sich, den klaren Verstand des frühreifen Kindes auf die dürren Wege jesuitischer Scholastik zu leiten. Unter ihrer Zucht wurde das hohe Selbstvertrauen, das bei Torquato in ganz besonders hohem Grade hervorgetreten war, abgeschwächt und möglichst ganz zu unterdrücken versucht, ja man strebte mit allen Mitteln der geltenden Disziplin dahin, dem Knaben Mißtrauen in seine geistigen Fähigkeiten einzuflößen, ein Zug, der sich selbst bei dem Mann nie wieder verlor und ihm so oft das berechtigte Vertrauen in seine dichterische Veranlagung in das Gegenteil verwandelte. Der Ausbildung natürlicher Urteilskraft wurde weder Raum noch Zeit gegeben und sein tiefes Gefühl, sein brennender Ehrgeiz, seine übermäßig erhitzte Phantasie lediglich für äußere Glaubenspraxis, für das Ceremonienwesen ausgenutzt. Bereits mit neun Jahren ließen seine Lehrer den Knaben zum Abendmahl zu, von dessen symbolischer Bedeutung er nichts verstand. Um so mehr schmeichelte der feierliche Akt, bei dem alle Blicke der versammelten Menge auf ihn gerichtet waren, seinem Ehrgeize, und teils von diesem Gefühle beseelt, teils im Banne der unbewußten Einwirkung dieses Mysteriums fiel er auf die Kniee nieder, um den Leib des Herrn zu genießen.
Für das leicht empfängliche, eindrucksfähige Gemüt des Knaben war es daher ein großes Glück, von dem lästigen und verderblichem Zwang dieser tendenziösen Lehrmethode bald befreit zu werden. Tasso mußte bereits nach wenigen Jahren Neapel verlassen, um seinem Vater in die Verbannung zu folgen, die dieser gleichzeitig mit dem Fürsten Ferrante Sanseverino von Salerno hatte auf sich nehmen müssen, da er zu stolz und zu treu war, sich im Unglück von seinem Herrn loszusagen. Der Abschied des zehnjährigen Torquato von seiner kaum aus schwerer Krankheit genesenen Mutter war ungemein schmerzlich; sie ahnten vielleicht, daß es auf dieser Welt für sie ein Wiedersehn nicht geben sollte, und als Tasso nach vierundzwanzig Jahren in dem trostlosesten Augenblicke seines Lebens als ein Flüchtling vor der Gehässigkeit der Menschen umherirrte, da tauchte in dem von aller Welt Verlassenen von neuem wieder die Erinnerung auf an diese schmerzlichste aller Trennungen:
„Doch vom Geschicke ward, ein zarter Knabe,
Dem Mutterbusen grausam ich enthoben,
Der Küsse denk’ ich seufzend noch im Herzen,
Der thränenfeuchten, denke noch mit Schmerzen
Ihrer Gebete, die im Wind zerstoben.
Denn nie mehr sollt’ ich Aug’ in Aug’ ihr blicken,
Nie, mehr sie an mich drücken,
Von Mutterarmen eng und fest umwoben!
Dem Vater, gleich Aeneas’ Sohn, Askanen,
Folgt’ ich dem Irrenden, auf irren Bahnen.“
Und in der That sind es irre Bahnen, die ihn der wackere Vater, der gleich dem Sohne von einem finstern Schicksal verfolgt wurde, in den nächsten zehn Jahren führt und die später Torquato allein fortsetzt, ein unstetes Wandern, das nicht eher ein Ende nimmt, bis man ihn, gebrochen an Körper und Geist, in der einsamen Klosterkirche auf dem Janiculus in Rom zur ewigen Ruhe bettet. Von Rom werden die Flüchtlinge durch die kriegerischen Verwicklungen zwischen Philipp II. und Paul IV. nach Bergamo, Bernardos Vaterstadt, getrieben, von da geht’s an den Hof des Herzogs von Urbino, von Urbino nach Venedig. Mit fünfzehn Jahren weilt Torquato als Student in Padua, wo er sein erstes großes Heldengedicht „Rinaldo“ dichtet und veröffentlicht. Von Padua geht’s an die Universität Bologna und von da zurück nach Padua, dann zum erstenmal an den Hof der Este in Ferrara, an den von Paris und Fontainebleau und wiederum nach Ferrara. Hier nun liegt der Schwerpunkt dieses abenteuerlichen Lebens, Ferrara ist das Weimar Tassos geworden, und mehr als eine Parallele ließe sich zwischen den beiden Fürstensitzen des sechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts ziehen. Hierher wird Tasso eingeladen, um ganz seiner Kunst zu leben, aber das Hofleben und die Eindrücke des politischen Lebens lenken ihn ab von der Ausführung seiner poetischen Entwürfe; hier findet er, der zu vollem Glück nur im Frauenumgang gelangt, ganz wie Goethe in Weimar, jede Art desselben; wie diesem die Freundschaft der Herzoginmutter Anna Amalie und der Herzogin Luise zu teil wird, so darf er sich der Gunst der Schwestern des Herzogs erfreuen; und auch sein leicht entzündliches Herz gerät durch seine Stellung zum Hof in leidenschaftliche Konflikte. Das Unglück will nur, daß der Hauptkonflikt, in den er gerät, ihn hinreißt, gegen die dem Herzog und seinem Hause schuldige Rücksicht zu freveln.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_248.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)