Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Haus Beetzen.
Ditschas langes Ausbleiben ist niemand aufgefallen. Die Kranke hebt die heißgelesenen Augen vom Buch, als das junge Mädchen in die Thüre tritt, und fragt: „Schon zurück, Ditscha?“
„Ja, Tante Tine!“ Und sie hockt sich vor den Ofen, weil sie einen Frostschauer nach dem andern fühlt.
„Tante Anna suchte Dich vorhin; sie wollte Dir sagen, daß die Morgenschuhe, die Du gestickt hast, ein junger Prediger zu Weihnacht bekommt, der im Januar nach Indien abreist.“
Ach, Ditscha ist’s so egal in diesem Augenblick, wer diese Morgenschuhe anzieht. Aber sie nimmt das Bänkchen und trägt es zu Tante Tines Platz und hockt sich darauf und legt ihren Kopf an die Lehne des Krankenstuhles, der durch den Druck auf eine Feder in ein Ruhebett umgewandelt ist.
Alle Umschweife sind ihr zuwider, sie hat die Soldatennatur ihres Vaters, aber eine diplomatische Ader besitzt sie nicht. Sie ist wahr bis zum Verletzem gegen andere Menschen, gegen sich selbst am meisten.
„Tante Tine,“ fragt sie, „glaubst Du, daß ich imstande bin, einen Menschen – einen Mann – glücklich zu machen?“
Tante Tine horcht bestürzt auf. „Ja,“ sagt sie, „gewiß – wenn Du ihn liebst, wenn Du ihn glücklich machen willst.“
„Ja, ich will!“
„Ditscha?“ ruft die Kranke, rot vor Erschrecken.
„Ich habe mich eben verlobt, Tante Tine,“ sagt sie so ruhig, als ob sie erzählt, sie habe eben Staub gewischt, oder dergleichen. „Du glaubst es wohl nicht, Tante? Doch, es ist wahr, ich weiß, ich kann einen Menschen gut und glücklich machen – –. Ist das nicht eine Aufgabe, des Lebens wert?“
„Wer? Wer?“ stößt die alte Dame hervor.
„Du kennst ihn nicht, Tante – Hans von Perthien. Er ist auf Uechte beim alten Calwerwisch, um die Wirtschaft zu lernen. Sein Vater und Onkel Jochen waren Jugendfreunde – Du sagst nichts, Tante?“
„Nein – ich – was soll ich sagen – was kann ich sagen? Sprich mit Deinem Onkel, Deinem Vater und – – Gott erspar’ Dir alle Täuschung, die ein so übereilter Schritt mit sich bringt.“
Ditscha erhebt sich, sie fühlt, daß sie hier nicht verstanden wird. „Ich werde gleich mit Onkel sprechen – warum soll ich eine Täuschung erleben? Ich bin doch so dankbar, daß jemand nach mir Verlangen hat.“
„Ditscha, würdest Du auch so rasch Ja! gesagt haben, wenn Dein Vater Dir heute früh nicht geschrieben, daß Du vorderhand noch nicht zu ihm kommen kannst, oder wenn Du die Verlobungsanzeige von Liesing nicht bekommen hättest?“
„Es ist möglich, Tante, daß der Brief Papas beigetragen hat, meinen Entschluß zu bestimmen – ja, ich glaube es sogar. Für Papa bin ich nichts, also der Grund, auf ihn Rücksicht zu nehmen, fällt weg, er wird sich freuen, wenn ich, so zu sagen, untergebracht bin.“
„Und Onkel Jochen und Tante Bertha?“
„Nun?“ fragt Ditscha zurück.
„Ditscha, undankbares Kind!“
„Undankbar? Aber, Tante Klementine, ich bin ja das Einzige, was sie hindert, sich ihrer Trauer voll hinzugeben. Ich bin nicht undankbar, ich will es gewiß nicht sein! Du verstehst nicht, Tante, wie wir verkehren, Du siehst uns nicht zusammen.“
„Nein ich sehe Euch nicht zusammen, ich denke mir nur, wenn Jochen es auch nicht so zeigen kann, er hat Dich doch gern.“
Ditschas Lippen kräuseln sich, sie will mehr, als daß einer sie ein bißchen gern hat. Sie weiß es auch besser: wenn sie gegangen ist, so schlägt die Flut des alltäglichen Lebens, des Trübsinns über die winzige Lücke zusammen, die sie gelassen, so regungslos und glatt fließt es weiter wie vorher – nein, man wird sie nicht vermissen. „Du irrst Dich, Tante,“ sagt sie kurz, küßt ihr die Hand und geht, Onkel Joachim zu suchen.
Er ist um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch zu finden, über dem das lebensgroße Bild des verstorbenen Lieblings hängt, ringsumher Geweihe, das ganze Zimmer ist mit Geweihen förmlich tapeziert, selbst der Kronleuchter besteht aus Stangen, selbst die Uhr, das Rauchtischchen, der Kleiderhaken.
Der Onkel raucht – es ist eine Luft zum Schneiden in dem Raum – und sitzt über einen Brief gebeugt, den er liest. Er merkt gar nicht, daß Ditscha eingetreten ist, erst Cäsar, der sich an sie drängt und einen kurzen Blaff thut, macht ihn aufmerksam.
„Du bist’s, Sophie?“
„Ja, Onkel, ich möchte mit Dir etwas besprechen – hast Du Zeit?“
„Hast wohl auch einen Brief von Deinem Vater, Kind?“
„Ja, aber deshalb komme ich nicht, Onkel Joachim.“
„So? Was ist es sonst – schieß los!“
„Morgen wirst Du Besuch bekommen, Onkel Jochen.“
„I, Gott bewahre! – Na, Friedrich weiß Bescheid.“
„Ich wollte Dich bitten, Onkel Joachim, einmal zu gunsten dieses Besuches eine Ausnahme zu machen, ihn nicht abweisen zu lassen. Er will Dich um –“ Sie stottert und bricht ab, so erstaunt und befremdet blickt Onkel Jochen sie an unter den buschigen Brauen hervor. „Es ist etwas Wichtiges,“ vollendet sie leise.
„Was ist’s denn – Schockschwerenot?“ fragt er nervös, „und was hast Du so feierlich und heimlich zu thun?“
„Herr von Perthien – –“ stammelt sie.
Er fährt empor, ein pfeifender Laut entfährt seinen Lippen. „Alle Wetter! Es thut mir leid, so es thut mir sehr leid, liebes Kind, aber ich wüßte wirklich nicht, was mir der genannte Herr Wichtiges zu sagen hätte,“ erklärt er kurz und kalt und thut ein paar mächtige Züge aus der Pfeife.
„Aber ich weiß es, Onkel, – er wünscht Dir mitzuteilen, daß wir uns verlobt haben. Sei nicht böse, Onkel, ich mag Dich nicht belästigen, er hat mein Jawort schon!“
„So! Nun vorläufig hast Du über dieses Ja noch nicht zu verfügen, und ebensowenig ich. Deshalb bitte ich Dich, vor der Hand Dich noch nicht als verlobt zu betrachten; Dein Vater hat die Entscheidung, mag sich Herr von Perthien an ihn wenden. Sagt Klaus Ja! so kann ich Dich nicht hindern, in Dein Unglück zu rennen, hinge es von meinem Urteil ab, so sagte ich Nein! Hast Du verstanden – Nein!“ wiederholt er schreiend, indem er auf den Tisch schlägt, daß die Lampe klirrt und Tante Bertha schreckensbleich aus dem Nebenzimmer gestürzt kommt, wo sie im Dunkeln gesessen, und hinter ihr Tante Anna.
„Jochen, Du bist immer so heftig,“ ermahnt die letztere. „Was hast Du nur?“
„Was ich habe? Da werde der Teufel nicht heftig! Ein dummes Mädel habe ich da – teilt mir eben mit, sie habe sich verlobt – fait accompli, und wir werden damit überrascht – heutige Jugend! Vertrauen zu der Erfahrung älterer Leute – Ehrfurcht – giebt’s nicht mehr! – Bertha, na, Du weißt’s ja noch, als wir uns verlobten, da ging ich zu Deinem Vater und –“
„Hans hat versucht, zu Euch zu kommen und auf dem hergebrachten Wege um mich zu werben, aber Ihr habt ihm den Eintritt in Euer Haus nicht gestattet,“ sagt Ditscha.
Tante Bertha faßt sich an die Kehle, als müßte sie ersticken. „Aber Ditscha! Ditscha!“ ist alles, was sie hervorbringt.
Tante Anna aber schreit auf: „Hans nennt sie ihn schon! Jochen, ich bitte Dich, das ist ja, weiß Gott, als treffen sich Hans und Grete auf dem Tanzboden, und andern Tages sind sie einig! Kind, thörichtes Kind, weißt Du, was in der Bibel steht? ‚Heiraten ist gut, aber nicht heiraten ist besser!‘“
„In der Bibel steht allerlei,“ donnert Onkel Jochen, „da steht auch: ‚Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei‘, aber es kommt darauf an, mit wem man sich zusammenthun will! – Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe,“ fährt er fort, „ich empfange Herrn von Perthien nicht. Wenn dieser angenehme Jüngling denkt, weil ich als junger Kerl lustig war mit seinem Vater, hat er das Recht, hier wie ein Wolf in die Hürde zu brechen, so irrt er sich. – Geh’ auf Dein Zimmer, Ditscha, und denke nach über Deine Thorheit! An Deinen Vater werde ich schreiben, und an den freundlichen Herrn von Perthien auch.“
Ditscha steht da inmitten des Zimmers in ihrem schlichten dunkelgrünen Tuchkleidchen, schlank und hoch aufgerichtet; das feine Köpfchen schwebt auf den bläulichen Rauchwolken, als habe
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_262.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)