Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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es verborgene Engelsflügel. Sie hält die Augen gesenkt, ein herber Zug liegt um den Mund. Sie weiß genau, hätte der polternde Mann dort sie bei der Hand genommen, hätte er zu ihr gesprochen: „Ditscha, Kind, liebst Du ihn denn wirklich? Hab’ ’mal Vertrauen zu Onkel Jochen – gelt, Ditscha, es ist Einbildung von Dir –,“ sie hätte aufschreiend den Kopf an seiner Brust geborgen und geschluchzt: „Onkel, ich weiß es nicht – ich glaube, Du hast recht, ich liebe ihn nicht, ich – es ist die pure Verzweiflung von mir – hilf mir, habt mich ein wenig lieb –.“
So aber empörte sich jeder Nerv in ihr. Gekränkt bis ins innerste Herz, trotzig, geht sie hinaus, und bei jeder Stufe, die sie emporschreitet, wiederholt sie sich: „Ich liebe ihn – Hans, ich liebe Dich – ich helfe Dir, ich bleibe Dir treu!“
Und dasselbe schreibt sie ihm, mit der Bitte, sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen und ja nicht zu kommen, da Onkel Jochen der Angelegenheit völlig abgeneigt sei. „Aber ich bleibe Dir treu, und morgen nachmittag gehe ich am Feldweg spazieren, wenn Du etwa zufällig – –“ Sie hört auf, das Blut schießt ihr siedend in die Wangen. – „Ein Rendezvous! – Sophie von Kronen – ein Stelldichein!“ Sie streicht es wieder aus, legt den Kopf auf die Platte des Tisches und grübelt. Dann schreibt sie den Brief noch einmal ab – den Schluß läßt sie fort. Sophie von Kronen trifft ihren Geliebten nicht heimlich, er muß sich begnügen mit der Versicherung ihrer Treue.
Ein Liebesbrief ist’s gerade nicht, dazu fehlt jede Innigkeit, jedes wärmere Gefühl, aber es steht doch da, daß sie ihr gegebenes Wort halten will, daß sie hofft, nein – daß sie bestimmt weiß, ihr Vater werde seine Einwilligung nicht versagen.
Hanne bringt dem jungen Mädchen endlich das Abendessen in ihr Zimmer. Hanne ist natürlich eingeweiht. Ditscha hat aber auch noch an ihren Vater geschrieben und sitzt nun am Tisch und stickt an einer Weihnachtsarbeit für irgend jemand. Sie ist jetzt ganz und gar ruhig und sie lächelt sogar, als Hanne ihr das Abendessen aufträgt und dabei stumme Seitenblicke auf sie richtet.
„Das ist ja, als hätte ich ein Verbrechen begangen, Hanne?“ sagt sie. „Habe ich denn gestohlen, oder –“
„Ja, das mein’ ich auch, Fröln Ditscha, as wenn Sie säben Jahr’ alt wären, wo sie nicht mit am Tisch essen durften, wenn Sie unartig gewesen waren, und daß Sie heraus möchten aus dies Hus, dat kann ich auch nachfühlen. Aber es hätt’ jawohl noch ’ne Thür gegeben, warum rennen Sie denn glik mit den Kopp durch die Wand, Fröln Ditscha?“
Ditscha sieht sie finster an.
„Nehmen Se’s mir nicht übel, Fröln Sophiechen, aber –“
„Ach Hanne, quäle Du mich nicht auch,“ ruft das Mädchen, „hast Du Dir etwa dreinreden lassen, als Du Deinen Seligen nahmst?“
„Um Gotteswillen!“ wehrt Hanne, „aber das war auch ein Minsch – so ein, veel to god, veel to god vör mi und vör düsse olle Welt.“
„Na ja!“
„Ick weit all! Jeden Narr’n gefällt sin Kapp’, Fröln Ditscha. Aber wer ’nen groten Sprung don will, de möt toerst rückwerts gähn, das heißt, he öberlegt sik en beten und huppt nicht mit beide Padden und ohne Besinnung öwer den Graben, und das haben Sie gethan. Gott gew Sei Glück dorbi.“
Ditscha bleibt allein, allein an ihrem Verlobungsabend; kein freundliches glückverheißendes Wort, keine liebevolle Zurede! Sie fühlt nichts als Kälte und Einsamkeit. Und plötzlich breitet sie die Arme aus. „Wenn ich eine Mutter hätte,“ jammert sie laut, „die würde mir sagen, was ich thun soll, sie würde mich liebhaben!“ Aber sie hat eben keine Mutter, hat sie nie gekannt. Sie weiß gar nicht, wie wohl es thut, so ein Mutterkuß, kennt nicht das grenzenlose Vertrauen, das Gefühl von Geborgensein an der Mutter Seite. Sie hat nur einen Vater, der ihr heute schreibt, daß sie Weihnacht nicht kommen dürfe – aus irgend einem geringfügigen Grunde, den er nicht einmal angiebt. O, und Ditscha hat seit dem letzten halben Jahre nur noch von diesem Weihnachtsbesuch geträumt, Tag und Nacht; hat sich gesehnt nach dem Papa mit allen Fasern ihres liebebedürftigen Herzens – und sie darf nicht kommen!
Sie meint plötzlich die Stimme von Hans Perthien zu hören: „Ditscha, liebe mich, rette mich, hilf mir gut werden!“
Sie will, sie will ihn lieben – aus Verzweiflung, aus Liebe nicht.
„Lieber Jochen!
Ditschas Glück liegt mir natürlicherweise sehr am Herzen, leider kenne ich sie so wenig, den Erwählten aber gar nicht, und so muß ich Dich bitten – da ich im allgemeinen dafür bin, in Herzensangelegenheiten nicht mitzusprechen, sondern jedem die Wahl zu überlassen – wenn der junge Mann ein Gentleman ist und auch sonst die Verhältnisse passen, den beiden meine Einwilligung zu übermitteln.
Ich sage: wenn die Verhältnisse passen. Ich kenne Familie von Perthien nicht; Erkundigungen sind oft unzuverlässig, man hört nie das, was man hören sollte – Du weißt ja ohngefähr.
Ditscha erhält zwanzigtausend Thaler Vermögen und eine standesgemäße Aussteuer; eventuell auch noch mehr, wenn ich keinen Sohn haben sollte. Vielleicht erfüllt aber Gott unsere Bitte, schon um Euretwillen. Ich werde sehen, hinzukommen, sobald sich die Sache entschieden. Den Besuch Perthiens habe ich abgelehnt, er paßt jetzt nicht in unsere Verhältnisse. Comprenez?
Dein Bruder Klaus von Kronen.“
Diesem Brief ist eine Depesche gefolgt mit dem lakonischen Bescheid: „Eben Deinen Brief erhalten mit Auskunft über P. Antrag ablehnen. Klaus v. Kronen.“
„Aha!“ sagt Onkel Jochen, und er nimmt sofort einen wappengeschmückten Briefbogen und schreibt:
„Sehr geehrter Herr von Perthien!
Im Auftrage meines Bruders, des Oberst Klaus von Kronen, bin ich genötigt, Ihnen mitzuteilen, daß er auf die Ehre, Sie als Schwiegersohn umarmen zu können, leider verzichten muß.
Gestatten Sie mir, die Gründe für diese Weigerung zu verschweigen. Hauptsächlich dürfte sie zurückzuführen sein auf meiner Nichte große Jugend und Lebensunkenntnis, wie auch Sie, geehrter Herr, mir noch als zu jung und zu wenig geeignet erscheinen, einer Familie vorzustehen.
ganz ergebenst
Joachim von Kronen.“
So! Er schließt mit einem fabelhaften Schnörkel, streut Sand darauf, blauen goldig glänzenden Sand, tippt dann auf die Klingel und befiehlt dem eintretenden Friedrich, Fräulein Sophie zu melden, er habe mit ihr zu sprechen.
Ditscha tritt gleich darauf ein. Es ist abends, vor Tische, und draußen flockt der erste Schnee.
„Hier lies, Ditscha, wir meinen es gut.“ Er reicht ihr das Telegramm.
„Was hattest Du Papa geschrieben, Onkel Jochen?“ fragt sie, nachdem sie gelesen.
„Du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Setze Dich!“
„Danke!“
„Wie Du willst. – Ich habe ihm geschrieben, daß Hans von Perthien ein junger leichtsinniger Dachs ist, dem ein Weib zuzuführen ebenfalls Leichtsinn sein würde. Hans von Perthien hat sich in Halle durch seine tollen Streiche zwar einen Namen gemacht, seinen Eltern aber nichts als Kummer; er hat auch eine recht hübsche Summe Schulden auf dem Halse, und da sein Vater absolut nicht in der Lage ist, dieselben zu bezahlen, so weiß man nicht recht, wie es mit ihm werden soll.“
Sie steht ganz unbeweglich.
„Ist Dir’s nicht genug?“ fragt der Onkel ärgerlich.
„O, dieses alles wußte ich ja, Onkel.“
„So! Und trotzdem?“
„Er hat mir das alles selbst erzählt, er hat mir aber auch gesagt, er würde ein anderer Mensch, er würde es bestimmt, wenn ich ihm helfen wollte.“
„Natürlich!“ stimmt der alte Herr ironisch zu, „so sagen sie immer, diese Herren. Aber es geht wirklich nicht, daß Du ihm hilfst, er muß aus eigner Kraft ein anderer werden, oder so bleiben – je nachdem; Du bist zu gut dafür und deshalb geht dieser Brief hier an ihn ab.“
„Aber wenn ich nun – wenn ich damit nicht einverstanden bin?“ ruft sie flammend.
„Du wirst es sein, Ditscha.“
„Nie – nie, Onkel – ich nehme mein Wort nicht zurück.“
„Er ist hoffentlich so viel Kavalier, daß er sich nicht weiter um ein Mädchen bemüht, dessen Vater ihn zurückwies.“
Sie antwortet nicht, sie sieht starr auf einen Punkt.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_263.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)