Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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„Du wirst Dich also vernünftig benehmen, Ditscha, nicht wahr?“ beginnt er von neuem. „Sei üherzeugt, wir wollen nur Dein Bestes.“ Aber es klingt barsch und ungeduldig. Und wie sie ohne ein Wort zu sagen hinausgeht, fängt er an zu pfeifen. „Ah, bah!“ sagt er dann, „sie wird sich schon geben, was soll sie denn auch machen? Sich das Leben nehmen? Na, na – i Gott bewahre, hat ja ihre fünf Sinne – hm – sonst ganz vernünftig, die Deern – na – na – –“
Ditscha scheint seine Hoffnung zu bewahrheiten, sie fehlt auch nicht abends, noch andern Tags bei Tische, sie spricht zwar nicht viel, aber sie antwortet artig. Blaß sieht sie aus, blaß zum Erbarmen. Na, es wird überwunden werden!
Onkel und Tante legen sich beruhigt zum Mittagsschlaf, Tante Anna schläft, Tante Tine schläft, nur Hanne sitzt am Fenster und stopft Strümpfe.
„Nee, so wat,“ sagt sie, „da gait uns lütt Fröln, un sünst dämmert sie doch auch um düsse Tid auf ihr Sofa.“
Ditscha wandert langsam durch die Hauptallee, biegt dann nach links ein, wo die Gärtnerwohnung sich befindet, und entschwindet den Augen der alten Frau. Sie öffnet nach kurzem Zögern die Hausthür und tritt in das Gärtnerhaus. Dort ist nur oll Mutter Buschen um diese Tageszeit zu finden, sie besorgt die kleine Wirtschaft, der Mann und die Gehilfen sind im Park und Obstgarten mit dem Verschneiden der Bäume und Sträucher beschäftigt.
Ditscha will fragen, ob Karl Busch, der zwölfjährige Junge, vor drei Tagen den Brief an Herrn von Perthien richtig abgegeben hat. Sie ist ohne Nachricht von ihm geblieben. Nach kurzem Klopfen öffnet sie die Stubenthür und verweilt stumm auf der Schwelle, denn da sitzt eine junge Dame in sehr elegantem Negligé in der Sofaecke und liest. Nun hat sie Ditscha erblickt und springt auf.
„O je! Das gnädige Fräulein Sophie!“ ruft sie – „gnädiges Fräulein kennen mich wohl nicht mehr?“
„Du bist’s, Grete?“ fragt Ditscha sehr gedehnt und kalt. „Wo kommst Du her?“
„Aus Berlin, gnädig Fräulein – wollt’ nur ’mal die Eltern besuchen.“
„So? Geht’s Dir gut dort?“
„O danke – sehr gut – das heißt, man muß sich so durchschlagen, es wird aber schon ’mal besser werden; man wird ja doch auch einmal ein Glück haben.“
In diesem Augenblick tritt Mutter Buschen ein, eine welke, unter schwerer Arbeitslast früh gealterte Frau. Sie wirft einen Umhang vom nächsten Stuhl, daß der kostbare Schmelzbesatz daran nur so klappert, macht eine böse Bemerkung über Unordnung und Unhöflichkeit zu ihrer Tochter, wischt einen Stuhl mit der Schürze ab und bittet „gnä’ Fröln“ Platz zu nehmen. „Grete, kiek’ nah den Kaffee,“ befiehlt sie, und die kleine üppige Blondine in dem blauen mit weißen Spitzen überreich garnierten Morgenkleide, das zu dieser einfachen Stube in höchst wunderlichem Gegensatz steht, geht hinaus, lächelnd, mit hocherhobenem Stumpfnäschen.
Ditscha ist ihr sprachlos mit den Augen gefolgt. Mutter Buschen sieht ihr halb stolz, halb ärgerlich nach und geht dann an den Glasschrank, den sie mit vieler Umständlichkeit aufschließt.
„Da ist ein Brief vor gnä’ Fröln,“ sagt sie, „Karl sollt’ ihn gnä’ Fröln geben, wenn Sie im Parke spazieren gahn; gestern abends hat ihn ein junger Herr gebracht.“
Dunkel erglühend greift Ditscha nach dem Schreiben. Die einfache Frau sieht sie an mit Augen, in denen sich tiefer Respekt mit Zweifel und Mißtrauen streitet. „O, gnä’ Fröln!“ murmelt sie.
„Was denn Mutter Buschen?“
„O, die Welt wird immer wunderlicher, ick verstah ihr nu bald nich mehr,“ und die alte Frau nimmt das Buch, in dem ihre Tochter gelesen, und die Sammetmantille und legt beides auf einen Stuhl im Winkel und deckt es mit einem Stück des Wochenblattes zu. „O, ich mein’ man so, gnä’ Fröln.“
Ditscha fühlt ihre Wangen brennen; sie weiß, die Frau wundert sich über ihre Korrespondenz, aber sie darf sich nicht anklagen, indem sie sich entschuldigt.
„Wollen sich gnä’ Fröln nicht setzen?“
„Danke, Mutter Buschen, nur so lange, bis ich gelesen.“
Grete Busch tritt eben wieder mit dem Vesperbrot ein, Ditscha spürt den Duft von geringwertigem Kaffee, vermischt mit Patschuli. Unwillkürlich nimmt ihr Gesicht einen hochmütigen Ausdruck an; sie steckt das Schreiben ungelesen ein und wendet sich zum Gehen.
Die hochfrisirte, stark gepuderte Grete lächelt ironisch, als der Brief in Ditschas Tasche verschwindet. Mutter Buschen fühlt, sie muß irgend etwas sagen. „Ja, das ist so, gnä’ Fröln, Kinner gehn ihre eigenen Straßen, und die Grete heirat’ ja nu auch bald.“
„So?“ – Ditscha kann sich nicht entschließen, freundlicher auszusehen; das aufgedonnerte Geschöpf mit dem frechen Lächeln ist ihr unsagbar zuwider. Was ist aus dem lieben blauäugigen kleinen Mädchen geworden, das sie einst gekannt, das einst, frisch gewaschen und gekämmt von Hanne, zum Spielen mit der kleinen Baroneß Ditscha ins Herrenhaus geholt wurde. – „So?“ sagt sie kühl, „ich gratuliere.“
„Ja, und was der Bräutigam is,“ fährt die Mutter fort, „der hat ja woll ’ne ganz gute Stellung – nich, Grete? Aber unsereins kennt sich nich aus mit die neumodischen Titels; ich weiß nich, was das vor einer is, ein spanischer Reitschulstallmeister – nich, Grete? Hat mit Pferde zu thun! Aber wie? Das versteh’ ich nich. Und was Grete ist, die sagt, nu muß sie auch reiten lehren, wobei mich das Grausen ankommt, denn es ist nix Paßliches vor ein Mädchen auf unserm Stand, und sie kann da ja doch auch Malhör bei haben!“
Und Mutter Buschen schüttelt den Kopf mit trostlosem Blick auf die lächelnde Tochter.
Ditscha verabschiedet sich mit einem: „Frau Busch, es steht ja alles in Gottes Hand! – Adieu, Grete, adieu, Mutter Busch! – Vielleicht kann Karl noch einmal für mich einen Gang thun?“
Oll Mutter Busch sieht sie wieder so eigentümlich an. „Wenn’t sin möt, gnä’ Fröln Sophie!“
Ditscha zuckt zusammen und bemerkt, wie Grete den Mund verzieht. Sie wirft den Kopf zurück und geht aus der Stube, die alte Frau folgt ihr. „O, gnä’ Fröln, dragen Se mi nix nach, gnä’ Fröln, ick hew Se doch von lütt up kennt, und wann ick ock man blot de Gärtnersfru bin, ick hew Se so leef as min eigen Deern.“
„Dann bekümmern Sie sich auch nur um Ihre eignen Sachen,“ sagt Ditscha mit blitzenden Augen. „So lange ich denken kann, hat mir einer von Ihren Jungen kleine Wege gethan – was kommt Ihnen bei, Frau Busch?“
„O, gnä’ Fröln,“ bittet die Alte und führt den blauen Schürzenzipfel an die Augen, „vergeben’s mi! Se hebb’n recht! Min Deern – ja ’s ist wahr, dodschrieen künn ick mi, wenn ick ehr ansieh. Aber se is doch man en gewöhnlich Mäken, und uter dat min Mann und ick uns darum kibbeln, kraiht da kein Hund un kein Hahn nah –. Aber so’n Fröln wie Sie, gnä’ Fröln –“
Ditscha wird jetzt bleich und dreht der alten ungeschickten Frau, die sich erdreisten will, ihr Verhaltungsmaßregeln zu geben, heftig den Rücken zu und verläßt das Haus.
„Gnä’ Fröln!“ schallt es hinter ihr her. „Karl kann ja, gnä’ Fröln – alles, wat Se wulln – Se brukens blot to seggen.“
Aber Ditscha antwortet nicht. Mit einem Gefühl des Ekels geht sie durch den Park. Neben der zerbrochenen Nymphe im einsamsten Teil des Gartens bleibt sie stehen und liest. Er schreibt ruhig, liebevoll, er fühlt, daß solch ein Glück nicht leicht zu erringen ist; er will sich’s verdienen und dankt ihr, daß sie warten wird, hofft auf gute Nachricht vom Papa. „Darf ich Dich nicht einmal sehen? Kommst Du nicht zu unserer Bank während der Dämmerung?“ fragt er. Thue es – bitte, gieb mir diesen Liebesbeweis – es ist so nötig, damit ich mich aufrecht erhalte. Bis in den Tod Dein Hans.
P. S. Morgen um vier Uhr werde ich dort sein.“
Er hat die Nachricht, die verneinende vom Onkel im Auftrag Papas, noch nicht, natürlich nicht – Onkel schrieb heute, und dieser Brief ist von gestern, sagt sich Ditscha.
Sie wird hingehen zu der Bank und wird ihm sagen, daß sie auf jeden Fall ihr gegebenes Wort zu halten gedenkt, daß er aber nicht gebunden sein soll, er, der so viel Aussichten auf ein anderes Glück. Will ihm sagen, daß sie sich nicht schreiben können – Beetzen hat keine Post, und sie hat keinen Boten – also stillschweigend warten. Das ist alles, was sie thun kann – wenn er damit einverstanden ist.
Sie kehrt um und geht am Gärtnerhause vorüber der Parkpforte zu. Es ist schon ziemlich dunkel, aber sie erkennt noch, wie Grete Busch ihr weißes Gesicht an die Scheibe drückt und sie anstarrt. Mag die denken, was sie will, Ditscha thut nichts Unrechtes.
Neben der Bank, auf der heute leichter großflockiger Schnee liegt, lehnt eine Gestalt, das Pferd ist auf dem Fahrweg geblieben, es steht mit schlagenden Flanken und tief gesenktem Kopf da, als sei es halb zu Tode gehetzt worden.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_264.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)