Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Die Gebärdensprache der Süditaliener.
„Lauter Bewegung ist er, er spricht mit tausend Gebärden,
Drückt mit Zeichen so klar wie mit der Zunge sich aus.
Staunend sehn Nordländer ihn an: ein anderes Wesen,
Regsam wie ein Polyp, scheint die lebend’ge Figur.“
Wilhelm Waiblinger. „Bilder aus Neapel und Sizilien“.
Am 9. Juni 1815, nach der Niederlage Murats, hatte Ferdinand,
seiner großen Bourbonennase wegen familiär der Nasone genannt,
endlich den Mut, sich seinem „getreuesten“ napolitanischen
Volke zum erstenmal wieder in seiner neuvergoldeten Herrlichkeit
als König beider Sizilien auf dem Balkon des hauptstädtischen
Schlosses zu zeigen.
Das Volk, eine gährende Hefenmasse lazzaronesker Elemente, hatte ihn herausgeschrieen. es meinte, für seine Treue zu einer Belohnung berechtigt zu sein, und verlangte von seinem guten „Vater“ stürmisch die schon vor Eintreffen des Königs nur mühselig verhinderte endliche Plünderung der Muratschen Hinterlassenschaft. Gieriges Brüllen, heischendes Toben schlug an die Ohren der lächelnden Majestät, die sich endlich erweichen ließ, vorzutreten, eine Rede zu halten, eine Rede ohne Worte, aber eindringlicher, wirkungsvoller als die donnerndste Philippika eines Demosthenes.
Ferdinand, der an gewöhnlichen Leben wie im Ministerrate nur den dicksten Dialekt der niedern Volksquartiere sprach, war auch in der Gebärdensprache der Söhne Masaniellos zu Hause.
Aller Augen hingen an seinen – Fingern.
In der theatralischen Weise eines Königs der Bretter streckte er die Rechte aus, zog sie scharf zurück und legte den Zeigefinger senkrecht über die Mitte des geschlossenen Mundes ... Nun bog er den Arm, die Hand mit den wie eine geschlossene Tulpe vereinigten Fingern, einen finsterfragenden Ausdruck im Gesicht, gegen die Menge schüttelnd (vergl. Fig. 3 auf unserer Bildertafel).
„Murats Habe!“ brüllte es hier und da.
Rasch lösten sich die Finger und fuhren wie beim Harfenspiel (angedeutet in der Figur über dem Knaben mit der Gans) seitwärts, wie klimpernd, eine halbe Kreislinie beschreibend nach rechts unten durch die Luft, bis sie wieder eine scheinbar etwas festhaltende Faust bildeten.
Dann kam der effektvolle Schluß. Hochauf richtete sich der königliche Redner, bog die Hand mit geschlossenen Fingern, den Rücken nach oben, unter das Kinn (wie das Mädchen auf dem Mittelbilde), unter dem er mehrmals heftig vor- und rückwärts strich, dazu den Kopf mit kurzem Augenschließen energisch zurückwerfend ....
Lauter zustimmender Jubel des Volks, tausendstimmige „Evviva Nasone!“ – „Hoch, hoch, der Nasone“ – folgten der aus nur vier Sätzen bestehenden Rede des teuern Vaters, der in uralter, antiker Sprache sich mit seinen Kindern verständigt hatte.
Mit Genugthuung entließ er die Versammlung, indem er die geöffnete Hand (auf der „Schneide“) mehrmals von unten nach oben in die Ferne hinein bewegte (siehe die linke Hand der Minerva auf dem obern antiken Vasenbilde, sowie die des Zeitungsjungen rechts oben in der Ecke), und grüßte die abrückende Menge mit dem graziösen napolitanischen Handgruße der drei wie winkend bewegten mittleren Finger der sanftgebogenen Rechten.
Wie aber hätte die Rede gelautet, in Worte übersetzt?
Das Zeichen des Schweigens zuerst – „So, Kinder, nun seid erst ’mal ein bißchen still! – Jetzt nehmt Eure fünf Sinne zusammen wie ich meine fünf Finger und überlegt, was Ihr wollt! – Mausen wollt Ihr? Krummfingern wollt Ihr? – Als Antwort nehmt das Zeichen der allerschärfsten Verneinung: daraus wird absolut nichts! So, und nun schiebt Euch einmal langsam beiseite und bleibt mir gewogen!“
Das ist ein historisches Anekdötchen aus dem großen völkerpsychologischen Buche der Gebärdensprache, das Tausende von interessanten Blättern hat, aber noch lange nicht fertig geschrieben ist.
Die Gebärdensprache ist uralt, so alt wie die Welt; die Gebärdensprache geht über die ganze Welt, sie ist international.
Was sind Gebärden? Professor Erdmann versteht unter Gebärden die Bewegungen, die zwar willkürlich gemacht und unterlassen werden können, die aber durch ihre Allgemeinverständlichkeit beweisen, daß sie nicht ganz beliebig gewählte Zeichen sind wie etwa die Buchstaben in der Fingersprache. Diese Verständlichkeit der Gebärden, die bei einigen darin liegt, daß sie Anfänge zum Handeln sind (das bloße Heben des Stockes versteht auch das Tier als Anfang des Schlagens), gründet sich bei andern auf ihre Symbolik, das heißt darauf, daß die Gebärden bildlich andeuten, was ausgedrückt werden soll. Wird einer ganz und gar vom Leid übernommen, so reckt er wie hilfesuchend die Hände über den Kopf, gleich einem Ertrinkenden.
Zu ihren Werkzeugen haben die Gebärden die Bewegungsorgane, ihrem Spiel (Gesten, Gestikulieren) dienen vor allem die Hände (ausnahmsweise die Füße), denen sich die beweglichen Teile des Gesichts, wie die Angabe von Nuancen in der Musikschrift, gesellen; dessen Gebärden nennen wir Mienen.
Unsre gewöhnliche Sprache, d. h. die gegliederte, aus kurzen bedeutungsvollen Lauten bestehende Menschensprache, ist das Mittel der Verständigung mit Andern, im weitesten Sinne Mitteilung von Gedanken durch sinnliche Mittel: hier nun setzt die auch der eigentlichen Sprache oft zur Seite gehende Gebärdensprache ein, mit anderen Worten: der Ausdruck von Gedanken und Empfindungen durch Gesten und Mienen.
Wie H. Schaaffhausen in seinen Anthropologischen Studien ausführt, unterstützen rohe Völker ihre Wortsprache durch Gebärden, teils wegen der Unvollkommenheit dieser Wortsprache, teils aus natürlicher Lebhaftigkeit, teils aus Bequemlichkeit. Das lebhafte Gebärdenspiel der Napolitaner hängt sicher mit ihrer Neigung zum „süßen Nichtsthun“ zusammen. Frau Ida Pfeiffer erzählt, daß die Puri in Brasilien für heute, morgen und gestern nur ein Wort haben, das Tag bedeutet, sie zeigen aber dabei aufwärts, vorwärts und hinter sich. Schon Greenhill gab an, daß östlich von Kap Palmas in Afrika ein Volk lebe, dessen Sprache im Dunkeln nicht zu verstehen sei, weil sie, um verstanden zu werden, der Gebärden bedürfen. Dasselbe versichert Burton von einem Stamme nordamerikanischer Indianer, die kaum miteinander im Dunkeln reden könnten, um einem Fremden aber verständlich zu sein, an das Lagerfeuer gehen müßten. Zweifellos mußte auch der Mensch der Vorzeit seine Sprache durch Gebärden verbessern.
Mag bei gebildeten Völkern der Anstand gebieten, die lebhaften Gebärden zu unterdrücken, dem gemeinen Manne der sogenannten klassischen Länder gelingt das nicht: diese Gebärden sind dem Menschen so natürlich und bequem.
Und – unterhaltend! Stundenlang, wenn man sonst nichts Besseres zu thun hat, kann man diesen schlanken zierlichen biegsamen Marionetten, den Händen, zusehen. Was können diese zwei mit ihrem Zehnfingerpersonal nicht alles ausdrücken: ganze Geschichten können sie erzählen, Liebeserklärungen machen, Heiraten stiften, werben und abweisen, geloben und lügen, schwören, küssen und kosen. Mit den Händen wird gedroht, geschmeichelt, beleidigt; sie bitten, bewundern grüßen, verhexen und bannen bösesten Zauber, zeigen und zählen. Ohne Erröten drücken sie Scham und Reue aus, werden zu Befehlshabern, zu Tröstern, Propheten, zu Spöttern, zu graziösen und verschwiegenen Kupplern; bitterer Hohn, tödliche Beleidigung kann von ihnen ausgehen. Die Hände schreien, die Hände schweigen, sprechen ihr Ja und Amen deutlicher als der Pfarrer auf der Kanzel.
O, über diese Knechte der Gebärde! Die Hände sind Dämonen, sie sind Engel, die einzelnen Finger kleine Zauberkünstler, boshafte Alräunchen und Hexenmeisterlein, wie das schon W. Grimm so reizend ausgeführt hat, da er die Finger als belebte Wesen, als zwergenhafte Geisterchen anspricht, wie die Volks- und Kinderphantasie es schon immer empfunden:
„Das ist die Scheunenmaus,
Das ist der Stehlkern,
Das ist der Paßauf etc.“
Oder:
„Das ist der Daumen,
Der schüttelt die Pflaumen etc.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_284.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2020)