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Seite:Die Gartenlaube (1895) 439.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Die Zwillinge.

Novelle von E. von Wald-Zedtwitz.


1.

In der sogenannten Hundetürkei, jenem Fleckchen Erde, das ungefähr durch die Städte Torgau, Herzberg und Jüterbog begrenzt wird, liegt ein einsames Heidedorf – nennen wir es Büttelstedt. Anmutig ist dessen Umgebung gerade nicht: feuchte Wiesen, auf denen Wasserlachen stehen, Schilf und Binsen ihr üppiges Dasein führen und der Storch die reichlichste Nahrung findet; einige dürftige Felder, deren Hafer- und Roggenähren man ohne Mühe zählen könnte, einzelne Aecker, mit Wolfsbohnen bepflanzt. Das Ganze umschlossen von endlosen Kiefernwaldungen.

Und nicht weniger arm an Reizen ist das Dorf selbst. Altersmüde Hütten drängen sich aneinander, als ob sie sich in ihrer Baufälligkeit gegenseitig stützen wollten, und die schweren bemoosten Strohdächer lassen sie noch kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Nur Pfarr- und Schulhaus zeichnen sich durch ein modernes Gesicht und bessere Bauart aus, während zu einer Erneuerung der Kirche die Mittel offenbar nicht gereicht haben. Schwer und plump aus Feldsteinen errichtet, an denen es hier nicht mangelte, war der Turm im ersten Ansatze stecken geblieben.

Ein elendes Nest, dieses Büttelstedt, und doch hängen die, welche hier geboren und erzogen werden oder eigentlich mehr wild aufwachsen, mit zärtlicher Liebe an der kargen Heimat. Von niemand aber mochte das mehr gelten als von dem Siebmacher Karl Schmallstein, der mit seinem Weibe Friederike dort wohnte. Der geistige Gesichtskreis der beiden war so eng wie ihr körperlicher; Büttelstedt, Büttelstedt und noch einmal Büttelstedt und allenfalls noch jene drei Städte, welche die „Hundetürkei“ begrenzen – das war alles.

Auch diese Städte hätten sie nie gesehen, wären sie nicht alljährlich zweimal zu den großen Märkten dorthin gefahren, um ihre Siebe an den Mann zu bringen. Selbstedend war das jedesmal ein Ereignis. Bei dieser Gelegenheit kaufte auch Schmallstein alles, was zu seinem Geschäft gehörte – die biegsame Umrandung der Siebe, den Draht, das Blech und die Pferdehaare.

Heute saß der Meister so recht in seinem Gott vergnügt in seiner niedrigen engen Werkstatt an der Arbeit, neben ihm seine Frau, deren Sache es war, die Pferdehaare zu einem feinen Gewebe zusammenzufügen. Aber dieses Geschäft ging ihr nicht so flott von der Hand wie sonst, eine beklemmende Bangigkeit beschlich ihr Herz, denn sie fühlte, daß die Stunde sich nahte, in welcher sie ihrem häuslichen Glücke durch die Geburt des ersten Schmallsteinschen Kindchens die Krone aufsetzen sollte.

Ihr lieber Karl schmiedete Pläne auf Pläne: wurde es ein Sohn, so mußte er natürlich einmal Siebmacher werden, schenkte ihnen aber der Himmel eine Tochter, so dünkte dem guten Meister der reichste Bauerssohn noch lange nicht gut genug für sie.

„Laß’ es werden, wie es will, Mann – was der liebe Gott schickt, nehmen wir dankbar auf; wenn das liebe Kind nur gesund, brav und tüchtig wird, dann soll’s uns recht sein.“

„Ja, bei Gott, das soll es,“ rief der Meister gerührt und streichelte seiner Frau zärtlich die Wangen.

„Und halten wollen wir’s wie Gottes Ebenbild. Hegen und pflegen und besser erziehen wie die anderen Kinder im Dorfe,“ setzte die Meisterin, einen bittenden Blick nach oben werfend, hinzu.

Frau Schmallstein stellte die Arbeit ein, begab sich in die Kammer und legte die kleinen Sachen zurecht, welche sie liebevoll gestickt und genäht hatte. Am nächsten Morgen herrschte Jubel in der Hütte, so daß sie wie vom Sonnenschein durchleuchtet erschien; denn der Storch hatte sich sanften Flügelschlages auf das alte wackelige Strohdach niedergelassen und einen kleinen männlichen Sprossen in die rohgezimmerte Wiege gelegt.

„Ein Erbe,“ sagte Karl gerührt, denn bei ihm stand es fest, daß der Neugeborene auch für den Fall, daß sich noch mehr Kinderchen einstellen sollten, so wie es seit undenklichen Zeiten in Büttelstedt Sitte war, einmal das Haus, das Geschäft mit der Kundschaft, sowie den Grasgarten, die anderthalb Morgen Ackerland, den kleinen Waldteil und das Gemeindehütungsrecht von sechs Gänsen auf der Pfarrwiese erben sollte.

„Der soll in der Wolle sitzen; die anderen mögen sehen, wie weit sie durch ihrer Hände Arbeit kommen.“

Schmallstein schmunzelte dabei das kleine schreiende Zappelding voll väterlicher Zärtlichkeit an, während die bleichen Lippen der Wöchnerin ein freundliches zustimmendes Lächeln umspielte.

„Ja, so soll es sein, dazu gebe Gott seinen Segen,“ flüsterte sie, ohne den Blick von dem Knaben zu wenden.

Aber plötzlich wurde sie unruhig, und ehe sie es selbst dachte, begrüßte ein zweiter kleiner Weltbürger mit lautem Geschrei das Licht des Tages.

„Gottes Segen über uns!“ rief der Vater, während die Mutter halb bewußtlos in den Kissen lag. Zu guter Zeit erschien, atemlos vom nächsten Dorfe kommend, die Wehmutter wieder, begrüßte mit lautem Eifer das zweite Söhnchen, bereitete auch ihm ein Bad und bettete es dann fein säuberlich neben das andere in die Wiege. Da fing der Erstgeborene an zu schreien, gleich darauf der zweite, der Vater nahm den einen, dann den andern, während sich die Wehmutter bereits wieder entfernt hatte. So ging es eine Weile fort, bis der gute Schmallstein, der wohl mit Sieben, aber nicht mit kleinen Kindern umzugehen verstand, nicht wußte, wo ihm der Kopf stand.

Friederike, welche nun wieder vollständig bei Sinnen war, richtete sich ein wenig empor.

„Gieb mir nur einmal unseren Aeltesten her, ich will den kleinen Schreihals schon ruhig bekommen.“

„Hier!“ Karl reichte ihr den einen doch nahm er ihn sofort wieder zurück. „Nein dieser ist es wohl? Nun weiß ich’s wahrhaftig selber nicht mehr.“

„Aber lieber Mann, dieser ist es,“ dabei deutete Friederike auf den, welchen Schmallstein im rechten Arme hielt.

„Der andere ist es, verlaß Dich darauf.“

„Ich glaube, Du gehst falsch.“

Karl sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, daß seine Frau auch daran glaubte; aber bald kamen ihr doch wieder Zweifel. Einer sah aus wie der andere: beide rot wie gekochte Krebse, beide mit blauen Augen, und dazu brachten sie jeder einen ganzen Kopf voll schwarzer Haare mit auf die Welt. Es war ja rein zum Verzagen. Dem Vater wurde jetzt ganz wirr im Kopf, denn die Sache war gar nicht unwichtig; man bedenke doch das Haus, den Acker und was alles noch damit zusammenhing, was der Aelteste einmal nach altem Recht und gutem Brauch erben sollte.

War die Erstgeburt nicht festzustellen, so konnte ja das größte Unrecht begangen werden.

Das schoß dem Meister jetzt alles durch den Kopf, aber er verschwieg es seiner Ehehälfte noch, damit diese sich darüber nicht beunruhige. Dafür nahm er sich vor, morgen die Wehmutter zu fragen, die mußte es ja wissen.

Der guten Frau war in ihrer langjährigen Praxis schon mancher verschmitzte Fall vorgekommen, aber so einer doch noch nicht.

„Hm – hm – ist es nun der oder ist es der?“

„Das frage ich Sie ja eben,“ antwortete der Meister.

„Wir hatten alle Hoffnung auf Sie gesetzt,“ klang es ängstlich vom Bette her, wo sich Frau Schmallstein Sorge machte, daß nicht etwa der Aeltere für den Jüngeren gehalten und dadurch in seinen Ansprüchen, welche er an das Leben zu machen hatte, geschmälert würde.

„In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Kinder durch rote und blaue Bändchen zu kennzeichnen,“ sagte die Frau mit salbungsvoller Weisheit.

Das schlug bei dem Siebmacher dem Fasse den Boden aus. „Das hätten Sie nur vorher sagen sollen; wenn die Herren vom Rathause kommen, so ist es gewöhnlich zu spät.“ Damit schob er die erstaunt Dreinschauende unsanft zur Thür hinaus.

Die Wehmutter aber hatte nichts Eiligeres zu thun, als die wunderbare Geschichte, welche das stille Glück des Ehepaares

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_439.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2021)
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