Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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Bazare. Dann gelangen wir aus den düsteren, kühleren Gewölben ins Freie und kommen durch ein glühendheißes Straßenlabyrinth an unseren Chan, allwo wir die verheißene Unterkunft finden sollen, „ein sehr schönes Zimmer, ganz à la franca“, wiederholt unser neuer Freund und Wegweiser. Wir treten durch ein hohes Thor auf einen von hohen Mauern umfriedeten weiten Hofraum. An die tausend Kamele lagern da im Sonnenbrand, erschöpft, lautlos, ein mächtiges Stillleben: Pilgerkarawanen von Mekka. Im Hintergrunde dieses Wüstenbildes liegt der eigentliche Chan, ein Komplex von Gebäuden, die teilweise verfallen sind. Im Erdgeschoß sind mehrere große, gewölbte Hallen, eine jede bietet Platz für zwei- bis dreihundert Gäste, wenn deren Raumansprüche bescheiden sind. Sie sind jetzt gefüllt mit einer Menge eben angekommener Pilger, die, dicht wie in einer Häringstonne, zwischen ihren Habseligkeiten am Boden liegen. Gesunde, Kranke und auch ein paar Tote, die von ihren Angehörigen eben nach ritueller Vorschrift gewaschen werden.
Der Wirt selbst ist so einsichtsvoll, zu erklären, daß er dieses wüste Massenquartier für uns nicht geeignet halte; er habe aber oben ein standesgemäßes Gemach, „Camera“ nennt er es, mit dem wir voraussichtlich zufrieden sein dürften. Nun ging’s hinan über eine bedenklich baufällige Steintreppe. Die Thür zu der „Camera“ stand offen. Es ist ein etwa neun Quadratmeter großer Raum, der außer einem Holzladen an der glaslosen Fensteröffnung keine weiteren Einrichtungsgegenstände besitzt. Dafür liegen aber zwei Pilger auf ihren Strohmatten am Boden. In der Mitte des Gemaches steht ein Mangal, das landesübliche Kohlenbecken, und darüber ein Dreifuß mit einem Kupferkessel. Ein etwa fünfzehnjähriger Junge, der auch mit zur Gesellschaft gehört, bereitet darin einen Reisbrei mit Melanganaapfel-Schnitten.
Hier wäre noch Platz für eine Person, meint der freundliche Wirt, indem er auf die noch freie Ecke weist. Er murmelt noch etwas von guter Gesellschaft und hebt hervor, daß die schon anwesenden Mieter ehrenwerte Leute seien, die bereits für eine Woche vorausbezahlt hätten. Trotz dieser Anpreisung können wir uns nicht entschließen, den braven Leuten ihren ohnedem schon karg bemessenen Wohnraum noch mehr zu verkümmern, und empfehlen uns mit den landesüblichen Segenswünschen. Alsbald befanden wir uns wieder auf der glühenden Straße. Noch einige andere Chane suchen wir auf; doch unser Führer behält recht: der erste war der beste.
Das kam uns nicht gerade unerwartet. Die heutigen Chane des Orients sind allesamt nicht besser. Sie gewähren niemals eine auch nur annähernd anständige Unterkunft. Die in Europa noch vielfach übliche Bezeichnung „Karawanserai“ für diese Unterkunftsstätten stimmt wenig zu der heutigen Verfassung dieser Herbergen. „Kerwan“ heißt die Karawane und „Serai“ der Palast, aber Karawanenpaläste sind das nicht, sondern – Einkehrställe, wie Fallmerayer sie treffend genannt hat. Die wirklichen Karawanenpaläste, wie sie die persischen Könige einst mit großer Pracht erbauten, liegen längst in Trümmern. Man findet hie und da noch die Ruinen. So zu Kaschan in der Provinz Irak Adschemi die von Schah Abbas dem Großen erbaute Karawanserai. Sie war die größte und schönste in Persien und vielleicht im ganzen Morgenlande. Die Wände waren mit weißem Marmor bekleidet, kühle Brunnen sprangen im Hofe unter schattigen Bäumen, und selbst die Stallungen für die Lasttiere, die Lagerräume für die Waren wie die Wohnungen der Kamel- und Pferdeknechte waren reich ausgestattet mit architektonischem Schmuck. Ueber dem prächtigen Hauptportal hatte Abbas die Inschrift angebracht: „Die Welt ist eine Karawanserai und wir sind eine Karawane.“ Auch auf dem Wege zwischen Tela und dem Dschebel-Sindschar in Mesopotamien las ich einmal über dem noch erhaltenen Marmorthorbogen einer gewaltigen Chan-Ruine eine Inschrift des Erbauers, die auf die einstige Größe dieses Karawanenpalastes schließen ließ: „Ich habe diesen Chan erbaut und alle seine Räume mit Rosinen vollgefüllt; ihr aber, die ihr später leben werdet, versucht es, ihn auch nur mit Stroh zu füllen.“ Der Name des mit solchem Rosinenreichtum gesegneten Bauherrn ist nicht mehr erkennbar; die Bewohner der Landschaft sagen, es sei Sultan Lul gewesen, der lange vor der Kalifenzeit zu Mossul am Tigris residierte.
Aus unsrer Verlegenheit rettete uns das Erscheinen eines Bekannten. Es war der türkische Marinekommandant von Dschedda, mit dem wir früher einmal, zu Basra, gut Freund gewesen. Damit hatte die Not ein Ende. In der Nähe seiner Wohnung befand sich ein leerstehendes Haus, das wir sofort beziehen konnten. Kostenfrei ward es uns zur Verfügung gestellt. Der Kommodore ließ die nötigen Möbelstücke aus seinem eigenen Haushalt hinüberschaffen Ein Matrose der Kriegsmarine stellte sich ein, Bedienung und Ehrenwache zugleich. Wir gelangten dadurch zu bedeutendem Ansehen bei der Nachbarschaft. Bald kamen Leute aus derselben und fragten uns, ob wir nicht etwas benötigten: Kupferkessel, Wasserkrüge, Holzkohlen, Kehrbesen oder eine Theekanne? Mein Matrose lehnte dankend mit einem stolzen Lächeln ab. „Wir besorgen alles,“ sagte er, nämlich er und sein Kommandant. Mit einem Wort, wir waren geborgen.
Doch was nun thun in Dschedda?! Was sonst wohl, als ein wenig bummeln und nebenbei nach der besten Gelegenheit für die Weiterkunft sehen.
Am Stadtthor vor dem Zollamte ist ein größerer Platz, in den sternförmig ein Dutzend Bazare mündet, der Meïidan.
Dort sind einige Kaffeehäuser etabliert, kleine Buden; man sitzt davor auf den niedrigen Stühlen ohne Lehne und blickt dabei auf die wechselnden Augenblicksbilder des Volksgewimmels, das sich hier vor den Augen entfaltet. Die mannigfaltigen, oft farbenprächtigen Kostüme, die vom Kopfe bis zum Fuß in Gazellenfell gekleideten hohen Männergestalten vom Stamme Beni-Slêb in buntem Wechsel mit fast gänzlicher Kostümlosigkeit gelber und schwarzer Menschenleiber, geben ein märchenhaft buntes Bild. Der ganze Islam hat eine vollständige Mustersammlung all’ seiner Völkerschaften hier zur Schau gestellt. Die verschiedenartigsten Menschenrassen dreier Weltteile sind darin vertreten: Türken, Albanesen, Tscherkessen, Turkmenen, Kurden, Perser, Araber, Nubier, Hindu, Malayen und was Allah sonst noch an mehr oder minder vernunftbegabten Lebewesen zu seinen Gläubigen zählt.
Durch wie weite Räume die Bekenner der Lehre des arabischen Propheten auch voneinander getrennt sein mögen, vor der Kaaba finden sie sich zusammen. Von Belgrad, von Madagaskar und den Inseln des östlichen Archipels, von den Mündungen des Senegal und aus den westlichen Provinzen Chinas, vom unteren Niger, aus dem Innern des Schwarzen Afrika, aus Bulgarien, Kaschkar, Samarkand und allen Gegenden, welche zwischen diesen Endpunkten in unermeßlicher Weite sich dehnen, führen die Wege nach Mekka.
Das sinnbetäubende Durcheinander eines wahrhaft babylonischen Sprachengewirrs durchbraust die Bazare. Keiner versteht den andern. Das einzige allgemeine Vermittlungsidiom ist noch einigermaßen das Arabische. Der mohammedanische Schriftgelehrte an den Donau versteht es zur Not ebenso wie jener von Singapur oder vom Ganges; allerdings gerade nur ausreichend zur notdürftigsten Verständigung. Es giebt der Schriftgelehrten aber nicht allzuviele am Ort, denn die gelehrten Herren gehen selten nach Mekka.
Am Meïdan haben die Schmiede ihren Stand; sie beschlagen die Hufe kalt, wie dies überhaupt im ganzen Orient Brauch ist. An den Ecken der Budenreihen sitzen Aerzte, die zugleich eine tragbare Apotheke bei sich führen, und öffentliche Schreiber; in den Winkeln stehen fellbehangene Derwische, mit langem zottigen Haarwuchs, stets bereit, für Geld und gute Worte Gebete herzusagen. Im Freien sammeln Märchenerzähler und fahrende Barden, welche die Liebeslieder des Hafis oder Stellen aus Saadis „Gulistan“ vortragen oder in zumeist schlechten Versen die Schiitenheiligen Hassan, Hussein, Ali und den Nationalhelden Rustem preisen, andächtig lauschende Gruppen persischer Pilger um sich.
In gewissen Entfernungen münden die Budenreihen des Meïdan in Thore, die zu den Chans führen. In diesen werden die Waren der Karawanen aufgestapelt, und hier versorgt sich der kleine Handelsmann des Bazars mit seinem Bedarf gegen wöchentliche Abzahlung.
Alle Arbeit ist öffentlich, die Leute haben keinerlei „Fabrikationsgeheimnisse“, jedes Geschäft, wie es auch immer heißen möge, wird frei am Markte betrieben. Der Gewerbtreibende hängt Muster nicht nur fertiger Industrieerzeugnisse, sondern auch des zu verwendenden Rohmaterials an seiner offenen Bude aus; der Schuster Sohlen von ungegerbter Kamelshaut, der Sattler einige Büffelfelle, der Schneider ein seidenes Wams, der Schwertfeger ein halbfertiges Panzerhemd. Die Pasteten- und Zuckerbäcker putzen ihre Ladentische zierlich mit bunten Zeuglappen und Papierblumen auf und finden stets Liebhaber für ihre Erquickungsgetränke.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_455.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2019)