Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1895) 460.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

reihte sich die Aufdeckung gleichartiger Anlagen in dem oberbayerischen, dem österreichischen und dem norditalienischen Seen- und Moorgebiete, und auch in Norddeutschland bis nach Livland hin zeigten sich Reste ähnlicher Niederlassungen.

Die Errichtung dieser Seedörfer – denn als solche müssen wir sie ihrem Umfange entsprechend betrachten – gehört nicht der gleichen Zeit an. Während die Anlage der nordeuropäischen Gruppe in die Zeit nach der Völkerwanderung, an die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends unserer christlichen Zeitrechnung fällt, siedelte sich in dem Seengebiete der Voralpen mehr als ein Jahrtausend früher eine Bevölkerung an, welche ihre Werkzeuge noch aus geschlagenem und poliertem Stein, aus Knochen und Holz anfertigte. Ebenso verschieden wie der Zeitpunkt der Aufrichtung ist auch die Dauer der Benutzung dieser Niederlassungen. In der Ostschweiz und in Oberösterreich endigt die Periode der Pfahlbauten mit der Einführung des Metalls, des Kupfers und der Bronze, in der Westschweiz, in Oberbayern und in Norditalien reicht die Benutzung der Pfahlbauten bis in die Eisenzeit, ja selbst bis an die Periode heran, in welcher die Römer ihre Herrschaft über Helvetien ausdehnten.

Heute sind diese Zeugen einer frühen Vergangenheit von der Oberfläche der Seen verschwunden. Was die vernichtende Macht des Feuers hinterlassen, hat das Wasser bis auf den Seegrund hinweggenagt. Nur Pfahlstümpfe noch verraten zuweilen dem Fischer, oft in unliebsamer Weise ihm die Netze zerreißend, die Stätten, wo in grauer Vorzeit seine Vorfahren hausten. Wollen wir uns ein Bild jener Anlagen entwerfen, so müssen wir unsere Blicke nach dem indischen Archipel, nach Melanesien, nach Afrika und Amerika richten, wo noch heute zahlreiche Stämme ihre gesicherten Wohnungen in der gleichen einfachen Weise über den glitzernden Flächen der Seen und der Flüsse erbauen. Wir sehen dann den Ureinwohner der Voralpenländer mit dem wuchtigen Hiebe der Steinaxt die schlanken Stämme am Seeufer niederlegen, mühevoll die zugespitzten Stämme oft zu Tausenden in den seichten Untergrund eintreiben und auf einem Fußboden von darüber befestigten Balken seine aus Holz und Lehm hergestellten, mit Stroh gedeckten einfachen Hütten aufrichten. Ein schnell zu beseitigender Steg vermittelt die Verbindung mit dem Festlande, rohe kunstlose Leitern den Zugang zum Wasser.

Was wir über das Leben und Treiben der Bewohner dieser Niederlassungen wissen, verdanken wir lediglich der erhaltenden Einwirkung des Wassers, der Decke von Sand und Schlamm, welche im Laufe vieler Jahrhunderte die zufällig von jenen Hütten aus in den See gelangten oder als unbrauchbar weggeworfenen Gegenstände schützend überzog und unversehrt der wissenschaftlichen Forschung unserer Tage erhielt, welche sie mit der Baggerschaufel aus dem schlammigen Grunde nach mehrtausendjähriger Ruhe wieder ans Tageslicht gefördert hat.

Wir lernen aus diesen Ueberresten ein Volk kennen, welches sich von Jagd, Fischerei und Viehzucht nährt und auch des Ackerbaues in bescheidenem Maße kundig ist. Mit Bogen, Pfeil und Lanze folgt es den flüchtigen Tieren des Waldes, deren Fleisch und Fell ihm Nahrung und Kleidung, deren Gehörn und Knochen ihm den Stoff zu Werkzeugen mancherlei Art liefern. Auf kunstlosen Kähnen, durch Feuer und mit der Steinaxt ausgehöhlten Baumstämmen, befährt es den See, um mit Netz, Angel oder Harpune den flinken Bewohnern desselben nachzustellen. Mit Werkzeugen der einfachsten Art, krummen Baumästen und Hacken aus Hirschhorn, lockert der Pfahlbauer mühsam den Boden am Seeufer, um ihm die kärgliche Ernte von Gerste, Weizen oder Flachs abzugewinnen, deren er zur Bereitung des Brotes oder zur Herstellung seiner Gewänder, seiner Fischnetze und anderer Flechtereien bedarf. Zahlreiche Knochen der wichtigsten Haustiere lehren, daß ihm die Zähmung und die Zucht des Rindes, des Schweins, der Ziege und des Schafs bekannt sind, und daß der treueste Freund des Menschen, der Hund, sein bescheidenes Heim teilt.

Auch einen Einblick in die häuslichen Verrichtungen der Pfahlbaubewohner gewähren uns die im Seeboden verborgenen Schätze. Tausende von Gefäßscherben oft noch mit Spuren des Speiseninhalts und der Einwirkung des Herdfeuers, verraten uns die große Geschicklichkeit, mit der jenes Naturvolk aus dem weichen Thon ohne Hilfe der Drehscheibe die verschiedenartigsten Formen, Näpfe und Krüge, Schüsseln und Teller u. a. m., zu bilden verstand; einfache Muster aus Strichen und Punkten darauf zeugen von bereits entwickeltem Schönheitssinn. Mahlsteine und Getreidequetscher lehren uns, daß Gersten- oder Weizenbrot zu den täglichen Nahrungsmitteln des Pfahlbauers gehörten. Spinnwirtel und kleine Gewichte aus Thon geben Kunde von dem einfachen Webstuhl, an welchen die Frauen jene trefflichen leinenen Gewänder anzufertigen verstanden, deren im Wasser verkohlte Reste das Staunen der ersten Entdecker in demselben Maße erregt haben wie die zierlichen Fischnetze und Bastmatten. Aus Zweigen geflochtene Körbe dienten der Aufbewahrung der mannigfaltigen Früchte des Feldes und Waldes, welche von dem Bewohner der Seedörfer als Nahrungsmittel gesammelt wurden. Und daß dem Pfahlbaumenschen auch die Putzsucht nicht fremd war, erzählen uns Perlen aus Thon und Bernstein, durchbohrte Muscheln und Zähne vom Schwein und von Raubtieren, wie die zierlichen Nadeln und Spangen aus Knochen oder Metall, mit denen er seinen Körper und seine Gewänder schmückte.

Nur wenig wissen wir über die physische Beschaffenheit der Bewohner jener Seedörfer. Selten finden sich im Seeboden Schädel oder Knochen von Menschen, die ihren Tod vielleicht zufällig im Wasser gefunden oder bei der Verteidigung ihres Heims gegen feindliche Angriffe gefallen sind. Die Gräber ihrer Toten müssen wir auf dem Festlande suchen.

Trotz der Unzulänglichkeit des Materials, auf Grund dessen wir uns die Kulturverhältnisse der Pfahlbauzeit vergegenwärtigen können, haben die Funde unserer Altertumsforscher, von denen z. B. das Museum Schwab in Biel am Bieler See in der Schweiz eine sehr übersichtliche Zusammenstellung enthält, doch genügt, um Dichter und Maler zu reizen, mehr oder weniger ausgeführte Bilder von den Zuständen und Menschen jener Zeit zu entwerfen. Die bedeutendste litterarische Leistung dieser Art ist die Pfahldorf-Idylle, welche der schwäbische Dichter und Philosoph Friedrich Theodor Vischer seinem Roman „Auch Einer“ einverleibt hat. Eine sehr anmutige Veranschaulichung eines oberbayerischen Pfahldorfs bietet das Bild von Olof Winkler, das die Leser auf der nächsten Seite dieser Nummer finden. Auch er hat für seine Darstellung sehr gewissenhaft alles benutzt, was die prähistorische Forschung an Thatsachen zu Tage gefördert hat.

Mit der fortschreitenden Kultur verloren auch die Pfahlbauten ihre Bedeutung. In der Ostschweiz und in Oesterreich hört ihre Benutzung mit der Einführung des Metalls auf, in dem westlichen Teile der Schweiz und in Oberbayern wurden die so lange innegehabten Wohnsitze erst nach der Bronzezeit von ihren Bewohnern, wenn diese nicht schon vorher gewaltsam vertrieben waren, verlassen und mit behaglicheren Niederlassungen auf dem Festlande vertauscht. J. Deichmüller.     




Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.
(13. Fortsetzung.)

Wenn Ditscha darüber nachdenkt, wie es hätte sein können, wäre ihre Jugend wohlbeschützt und gehütet gewesen, wäre das Eine nicht geschehen – dann überkommt sie eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine bittere Stimmung, die zu bezwingen auch jetzt, nach so viel Zeit, sie Wochen braucht. Sie denkt mitunter lange nicht daran, bis ein Zufall, ein Wort oder irgend eine Kleinigkeit, die aus jenen Tagen ihres Irrtums oder aus den späteren ihres kurzen Glückes stammt, wie mit einem Zauberstab sie in die Vergangenheit zurückversetzt und ihr schwere Stunden schafft.

Einmal hatte Hanne behauptet, Herrn Rothe in der Kirche gesehen zu haben. Ein andermal, ungefähr zwei Jahre nachdem sie sich getrennt – der Junge war noch klein – erblickt sie beim Zeitungslesen seinen Namen. Alles Blut drängt ihr zu Herzen, die zitternden Hände können das Blatt kaum halten. – Eine Verlobungsanzeige: Rothe – Franz Rothe – – ach, gottlob – ein anderer!

Sie fühlte noch den ganzen Tag das Zittern in ihrer Seele nach.

Und dann, niemand hat ja davon erfahren, dann hält sie eines Tages einen Brief in der Hand vom Mutterle, von seinem Mutterle. Die alte Frau schreibt so gut, so mütterlich und bittet sie, doch Vertrauen zu ihr zu fassen, ihr zu sagen, weshalb denn sie und Kurt sich getrennt haben.

„Er spricht nicht darüber, aber er ist so ein anderer geworden, er, der ein so warmer, sonniger Mensch war. Und jetzt sitzt er auf seinem zweiten Gut in Ostpreußen droben, beinah’ an der russischen Grenze, wo die Füchse einander ‚Gute Nacht!‘ sagen, mutterseelenallein, schreibt kaum und verbringt seine Zeit in Einsamkeit und Arbeit, ohne einen Lichtstrahl. Und das schöne Schlössel in der Mark steht leer, wie habe ich doch Sehnsucht nach dem Schlössel! – –“

Ditscha solle doch offen sagen, was es gegeben hat. Ein paar alte Mutterhände, die seien geduldig und auch geschickt, Knoten zu entwirren, die unlösbar scheinen, auch geschickt, zerrissene Fäden wieder zusammenzuknüpfen. Ihr liebes Töchterle sei doch gewiß ebenso wenig glücklich wie ihr Kurt jetzt, und sie, das Mütterle, könne keine Nacht vor Thränen schlafen. – –

Was es denn gewesen sei. Gebe es doch keinen Fehler, den die Liebe nicht verzeihen und vergeben könne! Arme Ditscha! So herzbrechend geweint wie über diesen Brief hat sie vielleicht noch nie, und tagelang ist sie umhergegangen, ehe sie geantwortet, und unzählige Briefe hat sie zerrissen, bevor sie einen zustande brachte, den sie abschicken konnte.

Sie hat geschrieben, das Mutterle solle ihr vergeben, sie sei an allem schuld. Aber reden könne sie nicht darüber und zusammenkommen könnten sie auch nicht. Sie wünsche ihm tausendfaches Glück, und sie sei ruhig jetzt und lebe nur in einem, in dem Bruder, der ihr vom Schicksal ans Herz gelegt worden; und das sei mehr Glück und Seligkeit, als sie habe erwarten können, und ihr ganzes Leben setze sie dafür ein. Sie danke dem Mutterle viel tausendmal und bitte, ihrer in alle Zukunft milde zu gedenken.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_460.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)
OSZAR »