Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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hatte, sah ich kriegerische Plakate an den Straßenecken und hörte das Geschmetter der Marseillaise überall. Die Theaterzettel zeigten Stücke wie: „La campagne du Rhin“ („Der Rhein-Feldzug“), Vaudeville, „Les Prussiens en Lorraine“ („Die Preußen in Lothringen“), „La sortie des barbars“ (Der Auszug der Barbaren“). Wenn man bedenkt, daß die Kriegserklärung kaum vierzehn Tage alt war, so muß man zugeben, daß die Franzosen ihre Zeit gut benutzt hatten!
Als ich nachts von Bordeaux weiterreiste, stand, vom Zuge aus eine Weile sichtbar, im Hafen ein Schiff in hellen Flammen. Es sah neben den unzähligen andern Fahrzeugen mit ihrem Wald von Masten wie ein feuerspeiendes Ungeheuer aus, das gegen ein Heer von Lanzentragern ins Feld rückt.
„Das ist nun schon der zweite Schiffsbrand in diesem Jahre,“ bemerkte einer der Mitreisenden.
„Warum legt man den preußischen Spionen auch nicht das Handwerk!“ entgegnete ein anderer.
Der Zug war wieder dicht besetzt. Ich hatte neben mir eine gemütliche alte Landfrau, die ihren Sohn vor dem Ausmarsch noch einmal sehen wollte. Sie erzählt mir das mit großer Umständlichkeit in einem Patois, das ich Mühe zu verstehen hatte. Dem bevorstehenden Abschied widmete sie dabei heiße Thränen, was sie indes nicht abhielt, am Ende der Geschichte in festen Schlaf zu sinken und mich als Kopfkissen zu benutzen.
In La Roche Chalais, einer kleinen Station, die wir am Morgen erreichten, hieß es: Aussteigen! – Der ganze Bahnhof war mit Soldaten angefüllt, welche unsern Zug erwarteten, um so weit als die Richtung zuließ befördert zu werden. Zur Kriegszeit gehen die Soldaten allen andern Passagieren vor; ein höflicher Stationschef erbot sich indes, einige der Reisenden, falls ihnen besonders daran läge, zugleich mit der Truppe zu befördern. Zwei Herren aus der ersten Klasse, meine Nachbarin und ein biederer Alter meldeten sich als „Eilige“. Da – ich weiß kaum wie? – überkam mich plötzlich der vorwitzige Wunsch, die Gelegenheit zu benutzen, um mir die „Grande armée“ etwas in der Nähe anzusehen. Sofort war ich neben der betrübten Mutter und verlangte ebenfalls „schleunige“ Beförderung.
Knapp vor der Abfahrt wurden wir Drei da noch in einen Wagen dritter Klasse hineingepreßt, der mit Soldaten bereits stark gefüllt war; ich quetschte mich zwischen die „Eiligen“ vom Civil.
Sobald ich nur drin saß, hätte ich aber um Gotteswillen schon wieder heraus sein und die militärischen Studien andern überlassen mögen. Keine Spur von Disciplin, die der romanischen Rasse nun einmal nicht im Blute zu liegen scheint.
Obgleich der vollgepfropfte Waggon wahrhaftig nicht zu Turnübungen einlud, gab’s ein fortwährendes Hinundherwildern, ein über die Bänkeschwingen oder versuchsweises Hinaussteigen auf die Trittbretter. Hielt der Zug, flog alles wie eingesperrte Vögel ins Freie und war nur schwer wieder einzufangen, lief auch wohl, trotz Abwehrens der Schaffner, mit diesen oben über die Wagen. Was ich leider bei meinem schnellen Entschluß gar nicht in Berechnung gezogen, war der Abschiedstrunk, den man den Kriegern gespendet, ehe sie den Zug unsicher machten. Schon bei der Abfahrt waren sie sehr angeheitert, wurden es unterwegs aber immer mehr, da ihnen auf allen Stationen noch Spenden von Wein, Schnaps, Bier, Viktualien und Cigarren mit den Segens- und Siegeswünschen anwohnender Patrioten zugetragen wurden.
Als sie bereits mehr getrunken als sie eigentlich konnten, sollte das „eilige Civil“ von dem Ueberfluß mitgenießen. Ein Gegenübersitzender hielt mir plötzlich die Flasche hin, die er eben abgesetzt, mit den Worten „A votre tour, Madame, vive la France!“
Obgleich mich der Ekel schüttelte, wagte ich nicht, mich zu weigern und that einen Schluck. Als aber sein Nachbar mit demselben Anerbieten kam und ich zu fürchten anfing, ich würde den übrigen vielleicht auch noch Bescheid thun müssen, bat ich mit ausgesuchtester Höflichkeit, mich zu entschuldigen, da ich leider nicht viel Wein vertrage.
Ich kam schön an! Sich weigern, auf Frankreichs Wohl zu trinken, galt den Exaltierten für Hochverrat. War ich vielleicht keine Französin? – vielleicht gar une prussienne?
„So seht doch nur ihr Haar und ihre Augen an, Ihr dummes Volk!“ nahm sich die alte Bauernfrau meiner an, deren Hand ich in meiner Angst immer fester drückte.
„Was Augen! Die Papiere haben die verd ... Spione vorzuzeigen!“ schrie – lallte vielmehr mein Gegenüber. Mir wurde bald heiß bald kalt – wenn sie die kleine Ledertasche untersuchten, die an meinem Gürtel befestigt war, entdeckten sie den Paß, der mich als „prussienne“ auswies. Ich sah mich bereits als Opfer meines Uebermuts zum Wagenfenster hinausfliegen ... da kam Hilfe. Aus der andern Wagenecke schrie einer, der den Streit mit angehört – vielleicht konnte er auch nicht lesen! – „Dummheit – Papiere! Die Marseillaise soll sie singen – da wird sich’s zeigen, ob sie gut französisch ist oder nicht!“
O – Vaterland! was hätte es dir genutzt, wenn ich mit diesen Wölfen nicht geheult, sondern in patriotischem Opfermut das Rheinlied angestimmt hätte? Ich kann beschwören, daß ich nicht im geringsten zum Marseillaise- noch zu anderem Singen aufgelegt war, aber mit zittriger Stimme piepte ich trotzdem: „Allons enfants de la patrie ...“
„Le jour de gloire est arrivé ...“ fiel der ganze Wagen sogleich brüllend ein. Vergessen war mein Paß und meine Unlust, mit ihnen zu trinken, und unter dem Geschmetter ihres Lieblingsliedes ging’s weiter bis zur nächsten Station. Hier wurde – Gott sei’s gedankt! – das „eilige Civil“ wieder von der grande armée getrennt und ersteres mit dem nächsten Zuge nach Paris befördert.
Ich aber gelobte mir feierlichst und brünstigst, weiteren Studien französischer Krieger in so gefährlicher Nähe für alle Zeiten zu entsagen.
In Tours hörte ich am Büffett, wo ich Kaffee trank, Folgendes: Die ausrückenden Soldaten hätten in Tarare den Stationschef gezwungen – auch sie mögen vom Abschiedstrunk schon begeistert gewesen sein! – ihnen einen Wagen für die „Damen“ abzulassen, welche sie ins Lager nach Chalons begleiten wollten. Der Uebermacht weichend, habe er diesen Personen den letzten Wagen des Zuges angewiesen, welchen sie sofort eingenommen hätten. Drauf sei das Abfahrtsignal gegeben worden und der Zug habe sich in Bewegung gesetzt bis auf – den letzten Wagen, den habe er aushängen lassen. Das Marseillaisegebrüll der Abfahrenden übertönte das Geschrei der getäuschten „Damen“.
Bald nachdem wir Tours verlassen, hatte ich die Freude, endlich einmal wieder einen bewölkten Himmel zu sehen! Der Wind hatte sich erhoben und trieb leichte, flockige Wölkchen vor sich her, die sich bald verdichteten, dunkler wurden und sich senkten. Regentropfen fielen schwer aufs Wagendach, schlugen gegen die Fenster und die durstige Erde trank, während feuchte Luft die brennenden Augen kühlte. Wie unbeachtet geht einem dieser so gewöhnliche Witterungswechsel vorüber, wenn man ihn nicht so lange entbehrt hat. Aber von Sevilla ab, das ich anfangs Mai verlassen, durch die ganze Zeit meines Aufenthalts in Cadiz und später in Tanger, hatte ich nur das vielgepriesene, ungetrübte Blau über mir gehabt. Ein farbenglühender Sonnenuntergang nach dem andern war auf Tage gefolgt, deren grelles Licht den hellen Sand und die kreidigen Häuser des Südens noch blendender erscheinen ließen.
Ich kann’s nicht sagen, welchen Genuß ich nun im Anblick der Wolken hatte und an den vornehmen grauen Lufttönen, welche sie der Landschaft mitteilten, nachdem der Regen aufgehört.
Das Kriegsfieber, dessen Symptome sich an jenem Nachmittag bei Doktor Migueres zuerst bei mir zeigten, und das sich während der Reise in einer mir bis dahin ganz unbekannten Abneigung gegen alles Französische immer mehr entwickelt hatte, ließ kurz vor Paris etwas nach. Ich kann’s nicht leugnen, daß ich während meiner beinahe zweijährigen Abwesenheit oft mit einem gewissen Heimatsgefühl an diese Stadt zurück gedacht hatte. Und wie sie jetzt immer deutlicher mit ihren Türmen am Horizont hervortrat, wurde mir mit einem Male ganz weich – die Verleumdungen gegen die „prussiens“, die ich unterwegs gehört, der Abscheu vor den undisziplinierten französischen Soldaten – für ein paar Augenblicke war das alles vergessen. Ja, ich war fast so weit, meinen Feinden zu vergeben und sie sogar zu lieben. Besonders als ich auch sehr freundlich von ihnen in meiner Wohnung empfangen wurde. Sie lag der alten Kirche St. Germain des Près so nahe, daß ich von meinem Atelier die Orgel hören konnte. Friedlich klangen an jenem Abend die Glocken zu mir herüber, als ich mich nach der ermüdenden Reise zum erstenmal wieder in ein Bett legte.
(Schluß folgt.)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_542.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2023)