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Seite:Die Gartenlaube (1895) 575.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit in mir aufwallte, da war es zu spät und mein Retter schon weit weg!

Scenen wie die dort erlebte sind häßlich genug, aber doch begreiflich, denn das Volk mußte ja halbtoll werden während eines Krieges, der seiner Söhne Blut kostete, seinen Wohlstand verwüstete und ihm nichts als Schmach und Niederlagen brachte. Dazu die abscheuliche Kost, welche Zeitungen und Proklamationen ihm täglich an gefälschten Kriegsberichten und anderen Lügen vorsetzten, die das Spionenfieber immer noch steigerte! – Ein Arzt verlangte damals im „Paris.Journal“ die schleunige Ausweisung aller deutschen Aerzte aus Paris und begründete das unter anderem wie folgt: „Unterrichtet, intelligent, klavierspielend, sind sie vorzügliche Spione. Sie haben dafür ihr eigenes Wörterbuch. Meine Cousine hat einen Deutschen geheiratet – man wird ganz stutzig, wenn man sich in ihrer Familie befindet und die Mienen beobachtet, mit denen sie sich gegenseitig ansehen, die Worte beachtet, die sie gebrauchen. Es scheint, daß sie an den Erfolgen ihrer Nation auch nicht mehr den geringsten Zweifel haben!“

Natürlich gab es auch besonnene und vernünftige Blätter, die aber, weil sie teuerer waren, das Volk nicht las. So z. B. brachte der „Temps“ (27. August) einen Brief Louis Blancs von London datirt, der mit der größten Unparteilichkeit seine Landsleute beurteilte: „Nichts“ – schrieb er – „was bei uns (in Frankreich) für offiziell gilt, hat hier den geringsten Kredit. Dagegen sieht man jede Depesche, die der König von Preußen unterzeichnet hat, für einen Glaubensartikel an. Jedes Telegramm, das uns einen Vorteil zuspricht, wird betrachtet, als ob es nicht existierte. Als die widersprechenden Berichte über die mörderische Schlacht am sechzehnten eintrafen, las man auf allen Maueranschlägen. Großer Sieg der Preußen – die Franzosen rechnen sich den Sieg zu. Mit anderen Worten: Die Preußen haben gesiegt, da sie es behaupten, während bei den Franzosen die Wahrscheinlichkeit vorliegt, daß sie lügen. – Ist das für einen Franzosen, der in England lebt, nicht herzzerreißend?“

Total verändert fand ich in jenen Augusttagen die Champs Elysées und das Bois de Boulogne. Verschwunden alle heitere Eleganz, statt der Spaziergänger Karawanen von hinwegflüchtenden Städtern und hereinströmenden Landleuten, die herrlichen Bäume gefällt am Boden, Schaf- und Rinderherden auf den Grasflächen weidend. Bei einem solche Spaziergang sehe ich plötzlich in der Mitte von sechs Soldaten, wovon zwei ihn unter den Armen gefaßt halten, einen todbleichen jungen Mann und höre den Ruf: „Ein Spion! Wieder ein Spion!“ Umsonst wehrte sich der Unglückliche, mit heiserer Stimme redend. Sie führen ihn in ein nahes Haus, wo, wie es heißt, ein höherer Offizier wohnt. Ein Wagen fährt vor, in den drei der Soldaten mit dem Gefangenen steigen. Ein vierter springt auf den Bock, ein fünfter noch hintenauf. Alles um mich flucht, lärmt und nimmt Partei gegen den „Spion“. – „Bis wir diesen deutschen Hunden nicht allen den Garaus gemacht haben, wird’s nicht besser!“ brüllt ein Kerl mit einer Physiognomie zum Fürchten. Ich rettete mich in einen Omnibus und ließ mich hinwegführen nach dem Louvreeingang, wo die assyrischen Altertümer in ihren stillen Sälen stehen. Hier traf ich einen alten Herrn, der so andächtig in die Inschrift auf einem verwitterten Stein vertieft war, als gäb’s draußen keinen Krieg und kein Spionenfieber. Noch dazu ein Besiegter – ein Franzose, wie ich am Band der Ehrenlegion in seinem Knopfloch erkannte. Er war der einzige Besucher in den unteren Sälen. Als ich zurückkam, stand er noch an derselben Stelle. Ich mußte an jenen Astronomen denken, der während der ersten Revolution die Pariser Sternwarte nicht verließ, um eine Entdeckung auf dem Mond zu konstatieren! . . .

Am 28. August konnte man an allen Straßenecken die Ausweisung der Deutschen lesen – binnen drei Tagen mußten sie Paris verlafssen haben. Als Begründung der Maßregel wurde zum erstenmal offiziell bekannt gemacht, was jeder längst wußte: daß die deutsche Armee ihren Marsch auf Paris fortsetzte und die Belagerung zu erwarten sei. Nun hatte alle Paßnot ein Ende – wir waren endlich frei! Das Fortkommen schien trotzdem nicht leicht. Ueber Belgien war der Andrang so groß, daß Agnes und ich nicht sicher waren, expediert zu werden. So wählten wir den Weg über England, und zwar: Boulogne mit der Einfahrt nach London.

Noch einmal bewog mich meine Freundin, mit ihr nach dem amerikanischen Konsulat zu gehen. Ihre Bekannten hatten behauptet, daß wir von irgend einer Behörde irgend eine Bescheinigung für irgend eine Grenze haben müßten, was sich dann sofort als unnötig erwies. Ein Laufpaß ist jedenfalls auch ein Paß, und den hatten wir ja erhalten. Diesmal gelangten wir durch einen einflußreichen Bekannten ohne zu warten ins Paßbureau und sahen von dort die straßenlangen Reihen armer Landsleute, die nicht mehr auf Pässe, wohl aber auf Reisegeld harrten, das ihnen von den deutschen Regierungen durch Vermittlung hier ausgezahlt wurde.

Abschiedsbesuche gab’s nicht viele zu machen – die Franzosen verschonte man mit seinem Anblick. Als ich meinen deutschen Freunden der Place Royale, welche die Belagerung in Paris aushielten, Lebewohl sagte, hörte ich von einem schmeichelhaften Vergleich: es verließen so viele Deutsche Paris, als man Stück Rindvieh eingetrieben habe, nämlich 150000 Stück!

An den Bahnhöfen ging’s nun arg her. Der plötzliche Aufbruch der Fremden an zwei bestimmten Tagen hatte – so viele auch bereits die Stadt verlassen – doch etwas Ueberwältigendes. Die Abfahrtsstationen waren überfüllt; Gepäckexpeditionen hatten förmliche Belagerungen auszuhalten. Am schlimmsten ging es jedenfalls am Nordbahnhof zu, wo man in allen Reisenden Deutsche vermutete. Mit Gepäck beladene Wagen, die in der Richtung dahin fuhren, verfolgte der Pöbel, warf sie mit Steinen und sandte ihnen als letzten Gruß noch den Ruf: „Feige Deutsche – fliehende Spione!“ nach.

Auf dem Bahnhof St. Lazare befanden sich fast ebensoviele Engländer und andere Fremde wie Deutsche. Wir waren eine Stunde vor der bestimmten Zeit an Ort und Stelle und hatten Mühe, an den Billetschalter zu gelangen. Zum erstenmal, seit ich in Paris wohnte, sah ich, daß man nicht in Reih und Glied wartete, sondern das Ellbogenregiment vorzog. Ein lärmendes Durcheinander wirkte betäubend. Abschiedsschluchzen – Kindergeschrei – Verwünschungen – Ausrufen vermißter Personen – Hundegebell und noch anderer greller Spektakel. Gepäckstücke sah man, die jeder Beschreibung spotteten. Tisch- oder Betttücher, vollgepackt und an den vier Enden zusammengeknotet, waren ganz gewöhnlich. Ich empfing hier weniger den Eindruck einer Gesellschaft Reisender als den einer Bevölkerung, die durch eine plötzliche Katastrophe wie Feuer, Wasser oder Erdbeben in die Flucht gejagt ist. Ich sah z. B. eine Frau, die eine Schüssel trug mit gekochten Kartoffeln auf denen Bratenstücke lagen; vier Kinder klammerten sich schreiend an ihren Rock und so drängte sie der Billetausgabe zu.

Endlich saßen wir, dicht gedrängt wie die Heringe, im Waggon. Statt um fünf, verließ der Zug erst um sieben Uhr Paris. So war’s Nacht, ehe wir in Boulogne ankamen – glücklicherweise eine kühle Sternennacht. Stundenlang dauerte es dann noch, ehe Mensch, Tier und Gepäck aufs Schiff gebracht war. Als unerhörte Rücksichtslosigkeit erschien uns, daß man den größten Teil des Verdecks für Luxuspferde vornehmer Franzosen reserviert hatte, die man durch die Reise ins Ausland der Requisition militärischer Behörden entzog. Sie waren alle bereits untergebracht, ehe die Menschen eingeschifft wurden. Die Kajüten waren überfüllt; die Kinder soll man buchstäblich übereinandergeschichtet haben. Was Platz fand, blieb auf dem Verdeck, wo wir dicht aneinandergedrängt, teils am Boden, teils auf Klappstühlen die Nacht zubrachten. Vielleicht hätte Müdigkeit trotz unbequemer Lage manchen schlafen lassen, wenn das Wiehern der fahnenflüchtigen Rosse, das Stampfen der Hufe auf der bretternen Diele uns nicht wach gehalten hätte. Die Knechte, die sicher Mühe hatten, die unruhigen Tiere zu zügeln, trugen durch ihr Schimpfen zu dem allgemeinen Spektakel auch noch bei. Auf einmal hieß es, ein Schimmel habe sich losgerissen. Eine krabbelnde, von Stöhnen und Geschrei begleitete Bewegung unter den Passagieren war die Folge, bis ein Ruf des Kapitäns, der laut über das Deck schallte, Ruhe gebot; es sei keine Gefahr, niemand solle sich von seinem Platze rühren!

Wer keine Lust hatte, über Bord zu springen, für den wäre es bei den gegebenen Raumverhältnissen auch ein Kunststück gewesen, dem Befehl entgegen zu handeln.

Langsam glitt unser Fahrzeug auf der glatten Wasserfläche weiter. Kein mitleidiger Wind half mit seinem Blasen den keuchenden Rädern nach. Wie ein Mitfahrer uns versicherte, war das Schiff dreimal so schwer geladen als gewöhnlich; das geringste Mehr konnte es zum Sinken bringen. Es war gut, daß die letzten Tage in Paris uns gegen Schreckenseindrücke etwas abgestumpft hatten.

Um neun Uhr früh war uns die Ankunft verheißen, aber erst nachmittags um Drei liefen wir in die St. Catharin-Wharfs ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_575.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2022)
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