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Seite:Die Gartenlaube (1895) 639.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

um keinen Preis vertrieben werden darf, da er sich sonst auf die Augen oder innere Organe schlägt. Dieses – ich bitte zu verzeihen, wenn ich angesichts der traurigen, so häufigen Folgen etwas heftig werde – verwünschte Gehenlassen hat schon manches jungblühende Menschenleben geopfert, hat schon Tausende von Existenzen untergraben, ihre Entwicklung verhindert. Es ist ja zweifellos besser geworden in den letzten Jahrzehnten, aber immer werden noch oft genug die furchtbaren Folgen solcher Ohrerkrankungen zu wenig beachtet.

Ganz abgesehen von der Taubstummheit als Folge möchte ich hier nur ganz kurz darauf hingewiesen haben, daß solche Ohreiterungen nicht bloß bezüglich der Zerstörung der Hörfunktion ins Auge gefaßt werden dürfen; es wohnt ihnen allen eine unmittelbare Lebensgefahr inne und keiner, der an einem ungeheilten Ohrenflusse leidet, ist auch nur einen Tag sicher, daß er nicht einer vom Ohr aus sich entwickelnden Blutvergiftung oder einer Entzündung, die sich auf das Gehirn fortsetzt, zum Opfer fällt; er gleicht, wie ich andernorts einmal gesagt habe, einem Manne, der mit brennender Cigarre auf einer offenen Pulvertonne sitzt.

Aus diesem Grunde haben auch die Lebensversicherungen ihr besonderes Augenmerk auf alle gerichtet, die mit Ohrenfluß behaftet sind, sie werden grundsätzlich nicht aufgenommen.

Zu Beginn der Erkrankung muß der Hebel angesetzt werden, da kann und wird beinahe immer eine Heilung zu erzielen sein! Später, wenn das Leiden monate- und jahrelang gedauert hat, ist es sehr, sehr schwer, ja oftmals wegen der bereits erreichten Zerstörungen gar nicht zu heilen, und die Eltern müssen sich gar oft in einem solchen Falle an die Brust schlagen und sagen „Zu spät; unser Kind ist ein geistiger Krüppel durch unsere eigene Säumnis!“ Wenn es tot auf der Bahre vor ihnen liegt, dann freilich wird das bittere Weh der Selbsterkenntnis, der Selbstanklage gar manches Elternherz durchwühlen, allein zu spät, zu spät! –


Die braune Marenz.

Erzählung von Charlotte Niese.

     (2. Fortsetzung.)

Am folgenden Nachmittage kamen Milo und ich aus der Privatstunde, in der wir nachgesessen hatten. Das kam daher, weil wir uns gänzlich in der Zeit versehen hatten und eine halbe Stunde zu spät gekommen waren. Eine Viertelstunde ließ Herr Sörensen uns immer hingehen, weil er unsre leichtsinnigen Neigungen, jedem fliegenden Vogel nachzusehen und bei der Gelegenheit lange stehen zu bleiben, kannte. Aber eine halbe Stunde Verspätung mußte er bestrafen und alle Entschuldigungen halfen uns nichts.

Das Nachsitzen war aber für uns eine Folter, und als wir die dumpfige Schulstube verlassen hatten, waren wir in etwas gereizter Stimmung. Ich sagte, Milo sei schuld daran, daß wir zu spät gekommen seien, und Milo behauptete, wenn ich nicht den Schmetterling auf Frau Dornings Grab betrachtet hätte, dann würde er die Zeit nicht verpaßt haben.

„Aber ich wollte doch sehen, ob der Schmetterling wie Marenz aussähe!“ verteidigte ich mich. „Die Leute sagen, sie würde jetzt auch so fein werden wie ein Schmetterling, wo sie vorher eine braune –“

„Ach was!“ unterbrach Milo mich. „Sieh mal, da fliegen zwei Störche!“

Darauf stellten wir uns hin und sangen:

„Adebahr, Du goder, bring uns en lütten Broder.
Adebahr, Du bester, bring uns ne lütte Swester.“

Und darauf wurden wir wieder sehr vergnügt, obgleich wir gar keinen Grund zur Freude hatten. Denn wenn man nachgesessen hat, muß man doch eigentlich wenigstens eine Stunde hinterher traurig sein.

Aber das Wetter war so schön, und da es auch noch früh am Nachmittage war, so lag die Welt mit ihren Freuden im Sonnenschein vor uns. Der Weg führte hinter der Straße, an einigen Gärten und Wiesen entlang. Verwöhnte Leute, die aus großen Städten kamen, fanden nicht viel an diesem Wege, der bei uns „hintenum“ hieß – aber für uns bot er viel Sehenswertes.

Da waren zwei kleine Gewässer, die uns viel Spaß machten. Das eine lag etwas zurück und sein Wasser war dunkelblau. Hier spülte der Färber Weiß seine Wollsachen, die alle indigoblau waren, und er selbst war auch schon ganz blau geworden. Wir fragten ihn einmal, weshalb er Weiß hieße und nicht Blau – da spritzte er uns mit dem blauen Wasser und wir liefen jubelnd davon.

Das zweite Wasser lag hart am Wege und seine Farbe war grau, manchmal sogar schwarz, besonders dort, wo die Bäume standen, die den Teich an drei Seiten einfaßten. Hier hielten sich häufig einige Waschfrauen auf, die ihr Zeug spülten und an einem festen Tische klopften. Sie sprachen viel bei dieser Beschäftigung und es war manchmal ganz interessant, ihnen zuzuhören. Aber sie jagten uns wohl fort; oder sie erzählten uns von einem Gespenst, das hier am späten Abend auf dem Tische sitzen und schreien sollte. Abends gingen wir nun grundsätzlich nicht „hintenum“, aber am hellen Tage sahen wir auch manchmal nach dem Gespenst aus, weil wir fest glaubten, uns im Sonnenscheine nicht zu fürchten. Wir haben es leider niemals gesehen.

Milo meinte aber an diesem Nachmittage, seinen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen. Als wir uns dem kleinen Waschtümpel näherten, faßte er meinen Arm und flüsterte eifrig: „Dort sitzt das Gespenst!“

Aber er irrte sich. Es war die braune Marenz, die auf dem großen Waschtische saß und starr in das dunkle Wasser blickte. Sie bemerkte uns gar nicht, sondern knöpfte wie mechanisch ihre rosa Kattunjacke auf und zu. Der Schatten eines großen Baumes fiel auf sie und wir konnten ihr Gesicht nicht ordentlich sehen – aber wir bemerkten doch, daß sie ganz sonderbar aussah.

„Guten Tag, Marenz!“ riefen wir. „Willst Du hier waschen?“

Sie fuhr ein wenig zusammen und sah uns verstört an.

„O – Kinners, seid Ihr das? Geht man nach Hause!“

Ihre Stimme klang müde und sie knöpfte wieder an der Jacke.

Einen Augenblick betrachteten wir sie zweifelnd. Sie sah so anders aus wie sonst, sie lachte nicht und ihre Augen lachten auch nicht. Dann liefen wir die Stufen hinunter, die zum Teiche führten und setzten uns neben sie auf den Tisch.

„Magst Du hier gern sitzen?“ fragte ich. „Hier spökelt es, und ein Geist läuft hier manchmal herum, ein furchtbarer Geist!“

„Das ist eine Waschfrau, die hier ins Wasser gesprungen ist, weil sie – weil sie –“ Milo, der diese Worte gesprochen hatte, gab mir einen Puff, daß ich beinahe auch ins Wasser plumpste. „Sag doch schnell, weshalb sie ins Wasser gegangen ist!“

Aber ich wußte es leider nicht mehr.

„Ich glaube, sie hatte gestohlen!“ sagte ich aufs Geratewohl und Milo lachte verächtlich.

„Dummes Zeug, es war ganz etwas anderes! Nun weiß ich es, ihr Bräutigam war weggelaufen!“

„Und nun spökelt sie!“ ergänzte ich.

Marenz hatte bis dahin kein Wort gesagt – nun wandte sie mir ihr blasses Gesicht zu.

„Ich mag abers nich spökeln!“ sagte sie mit einem leisen Schauder.

„Nein!“ – ich dachte einen Augenblick nach. „Weißt Du, wenn ich ein Geist wäre, würde ich immer nur am Tage spökeln – das muß lustig sein. O – ich würde die Leute schon erschrecken! Aber des Nachts möchte ich nicht spökeln!“

„Ein Geist muß aber gerade des Nachts spökeln,“ rief Milo. „Das ist gerade seine Strafe, nicht wahr, Marenz, wenn die Waschfrau sich hier ertränkt hat, dann muß sie auch bestraft werden. Am Tage zu spökeln ist keine Strafe – das ist ein Vergnügen, nicht wahr, Marenz?“

Aber Marenz antwortete nicht. Sie strich sich die blonden Haare aus der Stirn und sah schweigend vor sich hin.

Und wir beide sprachen noch eine Zeit lang über die Gespenster, die in der Stadt umgehen sollten. Marenz saß dabei und äußerte gar keine Ansicht, was uns einigermaßen erstaunte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_639.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)
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