Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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„Nun, dann will ich heut’ abend nur gehen!“ sagte Karl mit etwas gepreßter Stimme und griff nach seinem Hut. „Du wirst, ja wohl bis morgen wieder zur Vernunft kommen. Grüße die Eltern!“
Damit ging er seiner Wege, ohne sich noch viel umzuschauen – es rief ihn auch niemand zurück.
Es war ein wundervoller Herbstabend, dunkel und warm, wie sie der Oktober manchmal bringt, und Karl fühlte, sich unvermögend jetzt, wo es doch gewaltig in ihm stürmte, allein zu Hause zu sitzen! Ebensowenig aber verlockte ihn der Gedanke, in eine dumpfige Bierstube einzukehren und über Stadtgeklatsch und Politik zu sprechen – Nebenbei auch wohl neugierig gefragt zu werden: „Nun, warum denn heut’ abend nicht bei der Braut?“
Halb unbewußt lenkte er seine Schritte nach dem Hause der Tante Verwalterin, die er naturgemäß seit seiner Verlobung viel seltner besucht hatte. Näher kommend, glaubte er leise Musik zu hören.
Er klinkte die Thür sachte auf – als Hausneffe und besonderer Liebling durfte er sich das schon erlauben – und trat in den Gartensaal zu ebener Erde, in dem ein kleines uraltes Spinett stand.
Es war dunkel in dem Zimmer, bis auf den Vollmondschein, der eben hereinfiel und den Schatten des Fensterkreuzes scharf und schwarz auf den weißen Fußboden zeichnete.
Die Frau Verwalterin saß, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Sofa und strickte – er machte ihr mit der Hand ein Zeichen, sich nicht zu rühren. An dem kleinen Instrument saß Anna Braun und sang ein einfaches Volkslied. Karl Thiessen gehörte zu den Menschen, denen, ohne selbst ausübend musikalisch zu sein, Musik Lebensluft ist – er hatte es schon oft wahrhaft schmerzlich empfunden, daß seine Braut nicht spielte und nicht sang, und er versenkte sich mit doppeltem Vergnügen in den lang entbehrten Genuß.
Ohne daß Anna sein Eintreten bemerkt hätte, ließ er sich hinter ihr am offenen Fenster nieder, stützte den Kopf in die Hand und hörte zu, wie sie sang – ein deutsches Lied nach dem andern – die alten Worte und Melodien, die er in seinen schmerzlichsten Heimwehstunden in der Fremde vor sich hin gesummt und nach denen er sich gesehnt hatte. In seine heutige erregte, halb traurige, halb zornige Stimmung fielen die schlichten Töne wie kühlender Tau hinein. Der Mondstrahl, der immer weiter rückte, jetzt den dunkeln Kopf des Mädchens hell beleuchtete und auf ihren schmalen Händen schimmerte, schien wie mit einem Finger auf sie zu weisen und an ihn die Frage zu richten: „Hast du dir die denn noch nie recht angesehen?“
„Ja, wer so was alle Tage hören könnte,“ sprach er plötzlich, Zeit und Ort vergessend laut vor sich hin und Anna sprang, aufs tiefste erschrocken, vom Klavier auf und stand in mädchenhafter Verlegenheit im Mondschein vor ihm.
„Ich’ habe Sie gar nicht kommen hören!“ Mehr brachte sie nicht heraus, während die alte Frau Verwalterin schon mit dem Streichhölzchen kratzte, um die Lampe anzuzünden.
Aber Karl legte. hastig seine Hand auf die ihre.
„Ach bitte, Tante – noch kein Licht!“ sagte er eindringlich, „singen Sie uns noch ein paar von Ihren Liedern, Fräulein Anna! – so ein recht bewegliches, weichherziges – können Sie denn nicht mein Lieblingslied singen: ‚Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann!‘?“
„Nein!“ sagte Anna, so rasch und hart, daß er erstaunt aufblickte, „nein, das kann ich nicht singen – wahrhaftig nicht, Herr Thiessen!“
„Nun dann ein anderes,“ meinte die Verwalterin unbefangen, „sing’ uns das vom ,kühlen Grunde‘, Annchen – das ist ja auch hübsch.“
Und als Anna noch eine Weile gesungen hatte und leise den Deckel des Spinetts schloß, da stand Karl auch auf. „Ich darf Sie wohl nach Hause bringen, Fräulein Anna,“ sagte er „wir haben ja einen Weg.“
Während Anna, ohne viele Worte zu machen, nach ihrem Hut und Tuch ging, trat die Verwalterin zu ihrem Neffen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Nun, Karl, was hat’s denn gegeben?“
„Ach, nichts!“ sagte er halb verlegen und halb verdrießlich, „ich habe mich ein bißchen geärgert – das ist alles – nicht der Rede wert, Tante – wirklich nicht der Rede wert.“
Die alte gute Frau sah aufmerksam in sein blasses Gesicht.
„Mein lieber Junge!“ sagte sie zärtlich und schaute ein wenig sorgenvoll hinter ihm her. (Schluß folgt.)
Erinnerungen an Leopold v. Ranke.
Der hundertste Geburtstag Leopold v. Rankes belebt aufs neue rings im Vaterlande die Erinnerung an unseren größten Geschichtschreiber; er lenkt zugleich unseren Blick dem fruchtbaren Thüringer Thale zu, wo im Vaterhause zu Wiehe in der gedeihlichen Stille der Jahre nach dem Baseler Frieden das kindliche Gemüt mit der Luft der Heimat für immer jene heitere, milde Stimmung eingesogen hat, die aus allen Werken des weltumfassenden Historikers so vernehmlich zu uns redet. Vom Kyffhäuser fließt die Unstrut stundenweit zwischen Finne und Querfurter Hochebene langsam bis Memleben, wo sie nahe den Trümmern der Abtei ottonischen Angedenkens sich den Einlaß in die Flanke des Orlas gebrochen hat. Bis dahin erfüllen den Grund die feuchten Wiesen des Rieds, reiche Felder ziehen an den Gehängen zum Laubwald der Höhen hinauf. Auch die Ortschaften, mehrere Dörfer und das Städtchen Wiehe selbst, ein paar Schlösser, Burgen und Klöster, in Schulen verwandelt, erheben sich beiderseits über die Sohle des Thals und bieten in leichter Abwechslung die gleiche freundliche Rundsicht. Verwöhnte Reisende, wie Gotthilf Heinrich v. Schubert und König Friedrich Wilhelm IV., haben die Vorzüge dieser blühenden, Frieden atmenden Landschaft willig anerkannt; Leopold v. Ranke hat sie noch als Greis mit dem alten liebevollen Einverständnis wieder aufgesucht. Neben der sittlichen Zucht des Elternhauses darf man dieser erquickenden Umgebung den entschiedensten Einfluß auf die reine und glückliche Ausbildung seines Wesens zuschreiben.
Rankes Großvater, einer lutherischen Pastorenfamilie im Mansfeldschen entstammt, war als Pfarrer nach Ritteburg an der Unstrut versetzt worden; dort führte er ein Fräulein aus Hechendorf bei Wiehe heim, die in diesem Landstädtchen Haus und Grundbesitz ererbte. Letzterer, heute noch „Rankes Berg“ genannt, zieht sich südlich von Wiehe am Abhang der Finne empor und gewährt einen anmutigen Ausblick über die an geschichtlichen und sagenhaften Erinnerungen reiche Gegend. Drunten vorn Wiehe, links unweit davon das als Vorwerk zu Schulpforta gehörige Hechendorf, ehemals Cisterzienserkloster; weiter oberhalb, eine Stunde entfernt, Kloster Donndorf, wo Ranke vom zwölften bis ins vierzehnte Jahr den ersten gelehrten Unterricht empfing, ehe er nach Pforta kam. Gegenüber, jenseit des Rieds, das ebenfalls als Klosterschule namhafte Roßleben; rechts abwärts, vorm Orlas, Memleben, in seinen Ruinen ehrwürdig als Sterbestätte König Heinrichs I. und seines Sohnes, Kaiser Ottos des Großen. Steigt man von Rankes Berg weiter südlich in die Wälder hinauf, so trifft man
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_872.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)