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Seite:Die Gartenlaube (1895) 878.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

darauf, einen kleinen See, von dem aus rings Tannenwald aufstieg, den graue und weiße Gipfel überragten. Es war die Landschaft, die ihr Glück gesehen. Ihre Erinnerung sah keine andere, kannte keine andere, ihre Erfindungsgabe konnte keine andere schaffen.

Langsam füllten sich ihre Augen mit Thränen.

Sie hob den Zipfel ihrer grauen Malschürze und wischte sich die Augen aus. Sie malte weiter. Aber wieder stieg es ihr naß in die Augen und sie legte die Palette hin, stützte die Ellbogen auf und legte weinend ihr Gesicht gegen die gefalteten Hände.

Mit einem Male schrak sie zusammen. An der Thür hatte sich etwas gerührt. Sie mochte ein Klopfen überhört haben. Wenn irgend jemand sie weinen sähe! Sie sprang auf und wandte sich um.

„René!“ schrie sie.

Ja, da war er. Mit strahlendem Angesicht kam er herein und warf ein großes Paket, das er unter dem Arme getragen, auf den nächsten Stuhl. Er breitete die Arme aus und umfaßte Magda stürmisch. „Da bin ich!“ rief er, „da bleib’ ich! Nun ist alles gut – alles – alles!“ Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und sah sie dazwischen an wie ein zärtliches und glückliches Kind. Seine Freude war ganz unbefangen und ganz ungetrübt. Endlich aber mußte er fühlen, daß sie wie leblos seine Küsse duldete, und endlich bemerken, daß sie ganz bleich aussah.

Solche Mienen hat die Freude nicht.

„Magda,“ bat er ängstlich, „verdirb uns nicht die Stunde! Was hast Du? Zürnst Du mir? Weil ich Dich damals, an jenem schrecklichen Morgen, heimschickte? Aber sieh, ich bin so ein Mensch – ich muß in der Stille mit mir fertig werden – weißt Du, wie die Tiere im Walde, die sich auch verstecken, wenn sie leiden.“

„Daß Du mich an jenem Morgen wegschicktest,“ sagte Magda mühsam und hielt die Augen niedergeschlagen, weil sie sich vor den seinen fürchtete, „das that mir weh! Ganz fürchterlich weh! Aber schließlich – es ließ sich verstehen – es handelte sich um eine Sache, die ich nicht wissen durfte – von der man damals noch nicht wissen konnte, wie sie ausging. Aber, daß Du auch nachher ...“

„Was nachher?“ fragte er, faßte ihre beiden Oberarme an und sah ihr bezwingend in das Gesicht. Aber ihre Lider blieben gesenkt. Sie fühlte, daß sie vor seinem zärtlichen Blick ihre Haltung verlieren würde.

„Nachher las ich, daß Du Urlaub genommen habest. Ich dachte, Du wärest geflohen. Dann hörte ich, Du seiest hier. Und da – da ... Ich will es nicht mehr ertragen! Wenn Du mich vierzehn lange Tage entbehren konntest, Tage, in denen Du, von Sorgen verzehrt, von Angst und schrecklichen Gedanken gefoltert, ein unthätiges, trauriges Leben geführt haben mußt, wenn Du da nicht, in solchen Stunden, meine Nähe brauchtest, dann brauchst Du mich überhaupt nicht. Wenn ich nicht mit Dir leiden soll, will ich auch nicht mit Dir glücklich sein!“

Es war gesagt! Nun war es aus. Dies mußte er begreifen!

Aber René nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, küßte ihr die zusammengepreßten Lippen, die sich ihm durchaus nicht öffnen wollten, und sagte:

„Aber ich habe ja gar nicht gelitten, so wie Du Dir das denkst!“

Sie sah ihn an, zum erstenmal. Und unter seinem leuchtenden, zärtlichen Blick röteten sich ihre Wangen. „Du hast nicht gelitten?“ fragte sie unsicher. Und erinnerte sich doch, damals sein Gesicht verzerrt von Schrecken gesehen, sein Herz bang und schwer klopfen gehört zu haben.

René richtete sich auf. „Schweigen wir von den Stunden, bis ich wußte: er lebt! Dann begann das Ringen!“

Er ging an den Stuhl, auf welchen er das große Paket geworfen. Er nahm es sorglich auf und trat damit an das Fenster.

„Komm!“ sagte er.

Magda kam zögernd näher. Sie sah, daß René einen großen dicken Folioband von dem grauen Papier befreite.

Und René legte den Band auf den Tisch, indem er einfach alle Gegenstände zurückschob, wobei die arme Kuhglocke mit der Schweizerlandschaft auf die volle Palette fiel und alle Pinsel auf die Erde rollten. Er schlug das Buch auf und deutete mit dem Finger auf die Worte, die groß die erste Seite schmückten.

„Was steht da?“

Magda glaubte nicht zu sehen, was doch ihre Augen deutlich sahen.

Da stand: „Meiner teuren Magda gewidmet.“

Er schlug um. Das weiße Papier knisterte und blähte sich.

„Und da?“ fragte er, seinen Arm um Magda legend.

Auf der zweiten Seite stand: „Filippo Lippi, Musikdrama in drei Aufzügen von René Flemming.“

Magda wich zurück. Sie sah auf das Buch und auf René und wieder auf das Buch. „Das – das ist – doch nicht ...“ stammelte sie.

„Das ist mein fertiges Werk und heut’ in fünf Wochen führen wir es auf!“ rief er jubelnd.

Magda legte die Hand vor die Stirn. Sie bewegte den Kopf – langsam – schüttelnd – als müsse sie verneinen, was sie da sah, als könne es nicht sein, als stehe sie vor Unfaßbarem.

„Du hast – arbeiten können?“ fragte sie endlich.

„Und wie! Es war eine gesegnete Zeit!“

„Und – und die Sorge – trübte Dir nicht die Stimmung?“ fragte sie weiter.

„Wär’ ich ein Mann,“ fragte er feurig entgegen, „wenn ich nicht stärker sein wollte als die Sorge?“

„Aber – Dein – Gewissen? Wenn er nun doch gestorben wäre? Dabei konntest Du arbeiten?“ wiederholte sie nur immer.

„Mir war’s,“ rief er, „als erarbeitete ich mir sein Leben vom Schicksal! Und wenn auch nicht! Was geschehen war, blieb unabänderlich. Es war schrecklich genug. Schwäche aber wäre Schuld gewesen und hätte das Geschehene noch vergrößert! Denn was ich bin und was ich kann, ist mir nicht zum Vergeuden gegeben! Ich soll mein Pfund verwalten! Nicht in thatenloser Reue verkümmern lassen!“

Magda stand regungslos da, aber in ihrem Kopf wirbelte es von Gedanken. Dies alles war wirklich: sie stand in ihrem Arbeitszimmer, der grelle Wintertag sandte sein schmerzendes Licht durch die Fenster, drüben auf den schneebelasteten Dächern glitzerten die Krystalle in der Sonne. Und hier war René und sprach zu ihr – da lag sein Werk! – Sie träumte nicht!

Obgleich sie von der rein materiellen Thätigkeit, die das Niederschreiben einer solchen Partitur macht, keine rechte Vorstellung hatte, obgleich sie nicht wissen konnte, wie weit der geistige Gehalt des Werkes schon vordem in Renés Kopf fertig gestanden, ahnte sie doch, daß da eine Summe ungeheurer Arbeit vor ihr lag.

Während sie thatenlos und zitternd verzagte, hatte er gearbeitet! Während sie kaum imstande gewesen war, ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen und ihre bescheidene Malerei auszuüben, Dinge, die gewiß keine große geistige Sammlung erforderten, hat er mit einer eisernen Entschlossenheit gearbeitet! Er hatte sein hohes Ziel keinen Tag lang aus den Augen verloren!

Im mutigen, mannhaften Ringen war er seiner Kunst nachgegangen. Unbekümmert um Leben und Tod, um Schuld und Gefahr, um Reue und Mitleid, hatte er einzig seinem Werke gelebt!

Welch ein Mann! War das höchste Kraft oder höchste Kälte? Welch ein Mann! Und welch eine unberechenbare, unergründliche Seele die seine! Sie bereitete ihr immer neue Ueberraschungen.

Er hatte immer anders gehandelt und anders empfunden, als Magda sich ausgemalt, daß er handeln und empfinden werde.

Ein Zittern überflog Magda. In ihr wallte etwas auf wie Demut vor seinem mächtigen Wesen. Sie sah ihn an, scheu noch, als wage sie nicht an das Unerhörte zu glauben.

Und er sprach weiter, innig und zärtlich:

„Dir konnte ich keine Kunde von mir geben. Wenn es einmal aufwallen wollte, mächtig und unbezwinglich, spät in der Nacht, wenn mich die Arbeit nicht zur Ruhe kommen ließ, das süßeste Verlangen nach Dir – weißt Du, dann ließ ich’s nicht laut werden. Alles mußte niedergehalten werden, alles! So viel Kummer hast Du erlitten durch mich – nun solltest Du auch stolz sein – mein fertiges Werk mußte ich Dir bringen – mir war’s, als dürfte ich vordem nicht zu Dir kommen. Und nun ist es fertig und nun bin ich da und ich frage Dich: willst Du mich noch – willst Du mich noch?“ Er zog sie an sich und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Mit ihrem Kuß empfing er das neue, das heilige Gelöbnis, daß sie ihm für immer ergeben sei.

Sie wußte es von diesem offenbarenden Augenblick an, daß sie ihn fraglos und vertrauend lieben könne, daß das quälende Verlangen, ihn bis in jede Falte seiner Seele immer ergründen und verstehen zu wollen, von ihr gewichen sei. Sie wußte, sie würde ihm fortan die Freiheit lassen, sich auszuleben, wie es seiner Art

notwendig war; nicht aus weiblicher Feigheit, die wenigstens den Teilbesitz festhalten will, weil sie den ganzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_878.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)
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