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Seite:Die Gartenlaube (1895) 887.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

lange. Auch heute schien der Mond, wenn auch nicht so schön wie an jenem Liederabend – und in dem blassen ungewissen Lichte sah er auf seinem Tische einen weißen Brief schimmern.

Er zündete Licht an und nahm das Couvert mit einem eigenen, unbehaglichen Gefühl in die Hand, über dessen Berechtigung und Ursprung er sich selbst im Augenblicke keine Rechenschaft zu geben vermochte. Die Schrift war ihm unbekannt – er riß das Couvert, seiner sonstigen ordnungsliebenden Gewohnheit entgegen, ungeduldig auf – ein langer Brief steckte darin. Doch ehe er ihn gelesen hatte oder sich dazu anschickte, rollte ihm, als deutliche, greifbare Inhaltsangabe, ein goldblitzender Gegenstand auf dem Tische entgegen, fiel mit einem kurzen harten Klang zu Boden rollte ein Stückchen hin und blieb dann liegen.

Er hob ihn auf – es war der Verlobungsring, den er selbst vor wenig Wochen so glücklich und hoffnungsfroh an Binchens Goldfinger gesteckt hatte.

Er stand eine lange Zeit, ohne ein Glied zu rühren, und hielt den kleinen Ring in der Hand, indem er nur ein paarmal ganz mechanisch und gedankenlos vor sich hin sagte: „Was? – was?“ ein Mal immer lauter als das andere, bis der zornige Klang seiner eigenen Stimme ihn gewissermaßen aufweckte und ihm zum Bewußtsein brachte, daß er auch noch andere Leute aus ihrer Ruhe stören könnte – seine gute, alte Tante!

Mit dieser kleinen innerlichen Mahnung war er gewissermaßen zu sich selbst gekommen – zu seinem ruhigen, rücksichtsvollen Selbst; und das unklare, beschämende, widerwärtige Gefühl, daß man ihn – Kar! Thiessen – beiseite geworfen habe wie einen alten Handschuh, der zu nichts mehr zu gebrauchen ist – dies Gefühl wich einer dumpfen, ungemütlichen Verwunderung, wie denn so etwas gerade jetzt und gerade heute und gerade zwei Tage vor seiner Hochzeit möglich sei.

Er stand auf und ging hastigen Schrittes in der Stube hin und wieder. „Aber was habe ich denn gethan?“ frug er wieder laut vor sich hin, gleichsam, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören – um sich nicht so grenzenlos verlassen und allein zu empfinden.

Da fiel ihm der Brief, der den Ring begleitet hatte, ein. Er setzte sich an den Tisch, um ihn zu lesen und sich Aufklärung zu schaffen. Nun erst bemerkte er, daß die Dämmerung schon hereinbrach, daß also der halb betäubte Zustand, in dem er sich befunden, nicht Minuten, wie er gewähnt, sondern Stunden gedauert haben mußte. Er las den Brief – er war von der Steuerrätin – einmal, zweimal,. und immer wieder durch, ohne eigentlich so recht zu begreifen, was er enthielt, und mit jedem Mal, da er ihn las, wurde er ihm unverständlicher.

Er hatte plötzlich die Empfindung: „Aber das geht mich ja im Grunde gar nichts an! – Das bin ich ja gar nicht, von dem hier die Rede ist!“

Und schwer war es für ihn, sich mit dem abgedankten Bewerber eins zu glauben, sich, der seine kleine Braut wie ein Meißner Porzellanfigürchen behandelt hatte, so zart und vorsichtig, und dem die Frau Steuerrätin jetzt Schwarz auf Weiß zu wissen that, daß durch sein rauhes, herrschsüchtiges Wesen und durch die namenlosen Ansprüche, die er schon während des Brautstandes an die Leistungen Sabinchens gestellt hätte, das arme Kind sich bis zur Verzweiflung verschüchtert fühlte. Bei dem Gedanken, ihm von den sie so zärtlich liebenden Eltern und Geschwistern fort in ein ganz fremdes Land zu folgen und dort nicht einmal, wie sie geglaubt, in glänzende Verhältnisse zu kommen, sondern wie eine Hausmagd arbeiten zu müssen – bei dieser Vorstellung habe Binchen den Mut verloren, ihm ihr Wort zu halten. Sie gebe ihm hiermit seinen Ring zurück und hoffe – sie beide wären ja noch so jung – daß das Leben ihm noch ein anderes Glück bescheren werde – und so weiter, und so weiter.

Als Karl Thiessen diesen sehr inhaltsreichen Brief endlich wirklich gelesen, nicht bloß mechanisch angestarrt, und als er den Inhalt wirklich begriffen hatte, als ihm klar und deutlich vor Augen gebracht wurde, daß er aufgehört hatte, ein begehrenswerter Bräutigam zu sein, seit sein angeblicher Reichtum sich als einfacher, behaglicher Wohlstand erwiesen hatte – da gewann plötzlich der ruhige, gesunde Menschenverstand, der eigentlich in seinem ganzen Leben noch stets die erste Stimme gehabt, sein Recht wieder und er sprach zum letztenmal in dieser denkwürdigen Nacht laut mit sich und sagte: „Aber da kann ich ja eigentlich recht froh sein!“

Es war ihm klar geworden, daß er an dem Mädchen nichts verloren habe als ihr niedliches Gesicht, und das wäre, wenn es fürs ganze Lebensglück ausreichen sollte, auch nicht viel gewesen.

Aber anders sah es freilich in ihm und um ihn aus, wenn er in die aufsteigende Sonne starrte und sich fragte, was er nun mit dem beginnenden Tage und jedem, der ihm folgen würde, anfangen sollte.

Keine Braut – kein Haus – keine Zukunft – wieder allein im fremden Land! Doch was half es, sich das alles immerfort her zu sagen!

Das Nächste, was sich ihm mit größter Entschiedenheit aufdrängte und vor Augen stellte, war, daß er hier nicht bleiben konnte. Sollte morgen die halbe und übermorgen die ganze Stadt mit Fingern auf ihn zeigen als auf den Bräutigam, den die Braut zwei Tage vor der Hochzeit seiner Wege gehen hieß? Sollte er sich von der guten alten Tante Verwalterin nach guter alter Damenart trösten, bemitleiden, sich gute Bissen vorsetzen lassen und nebenbei hören, fühlen und merken, wie sie urteilte: „Ja, siehst du, das habe ich mir immer gedacht – hättest du mich gefragt“ – und was der billigen Hinterher-Weisheit mehr ist?

Ihn überlief es siedendheiß bei dem Gedanken an das helle Tageslicht, das jetzt so siegreich, so unbarmherzig und unumgänglich dort im Osten heraufkam, um ihn und seine Demütigung in greller Beleuchtung den Blicken der Menschen preiszugeben.

Nein – das Leben hat ohne jede Frage Augenblicke, wo Flucht keine Feigheit, sondern eine moralische Notwendigkeit ist – und ein solcher Augenblick war gekommen. Er riß ein Blatt aus seiner Schreibmappe, teilte der Tante Verwalterin in kurzen fliegenden Worten, denen mehr nach der Schrift als nach dem Jnhalt die Erregung des Schreibenden anzumerken war, das Geschehene mit und that ihr zugleich kund und zu wissen, daß er mit dem ersten Frühzuge nach Berlin reisen wolle. Dort würde er vorläufig bleiben und ihr, ehe er Europa verließ, in jedem Fall noch ein Stelldichein geben, um ihr persönlich Lebewohl zu sagen. Sein Gepäck solle sie ihm nach dem von ihm bezeichneten Hotel schicken.

Dann zog er auch seinerseits den Verlobungsring vom Finger, siegelte ihn ein und adressierte ihn an Binchcn und – ja, nun war er ja wohl fertig!

Als er im Tagesgrauen, seine Handtasche mit den unentbehrlichsten Gegenständen bei sich, auf der Straße stand und die schlafende regungslose Stadt betrachtete, über der die eigentümliche kühle Farblosigkeit der ersten Morgenstunden lag, als er sich sagte, daß er in dieser Stadt sein Glück gesucht, scheinbar gefunden und es nun darin zurücklassen müsse, da bäumte sich etwas in ihm auf – ein wenig schmerzliche Wehmut und ein gut Teil mannhafter Trotz.

„Sein Glück hat der Mensch in sich,“ dachte er und richtete sich zu seiner ganzen stattlichen Größe auf, „wollen doch einmal sehen, ob ich nicht noch etwas aus meinem Leben zurechtschnitze – und nun vor allen Dingen nicht weich werden!“

Unter solchen Gedanken, solchem sich selbst Zureden hatte er den Bahnhof erreicht und saß nun im Wartesaal, der wie alle Wartesäle nicht sehr reizvoll und in dieser frühen Frühstunde doppelt öde aussah.

Zum Glück brauchte er nicht mehr lange zu warten. Draußen dampfte und keuchte schon der Kurierzug, wie erschöpft von seiner atemlosen Fahrt durch das deutsche Land, und eben wollte Karl das erste beste Coupé besteigen, als er eine wohlbekannte Gestalt mit derselben Absicht den Bahnsteig entlang gehen sah, ganz allein und mit müden, kleinen Schritten, die etwas Hilfloses, fast Rührendes an sich hatten – Anna Braun!

Karls erste und begreiflichste Empfindung war, der Begegnung schleunigst aus dem Wege zu gehen. Schon hatte er den Fuß auf dem Wagentritt – da kam eine zweite Empfindung, stärker als die erste. Es mußte doch in gewisser Weise wohlthuend sein, diesem guten kleinen Mädchen zu erzählen, wie man mit ihm umgegangen sei, und in ihren teilnehmenden Augen zu lesen, wie warm sie für ihn Partei nahm – er vertrat ihr den Weg.

„Fräulein Anna!“ sagte er mit einem gewissen Ernst, „wir sind zusammen hier angekommen und nun wollen wir auch zusammen abreisen – ich fahre auch nach Berlin.“

Die paar Worte, kurz wie sie waren, hatten doch lange genug gewährt, um Anna ihre volle Fassung wieder zu geben. Zuerst hatte sie ein bitteres, fast grollendes Gefühl empfunden, als sie den Jugendfreund vor sich sah und von der kühlen, stillen Insel des Verzichtens und der Ergebung, auf die sie sich mit so viel Mühe und so viel Thränen gerettet hatte, sich wieder in das brandende Meer der innerlichen Kämpfe zurückgeschleudert fand.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 887. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_887.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)
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