Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1896) 0051.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


nie dem Hause, ohne daß Herr Schneider sie händereibend unter der Thür erwartete.

„Einkäufe gemacht, Frau von Feldern, recht billige Einkäufe?“ lautete seine stete Frage, und sie vergalt ihm die Bosheit mit Entgegnungen wie: „Man wird ja ohnmächtig in Ihrem Lädchen, Herr Schneider, wenn man nicht Ihre gottgesegneten Geruchsnerven besitzt.“

So sehr sie nun übertrieb – im Schneiderschen Geschäft ging’s in der That nicht übermäßig reinlich zu; er ließ so ziemlich fünfe gerade sein, und es genierte ihn nicht, daß seine halbe Wohnung voll Kisten und Kistchen stand bis heraus in den ebenfalls vollgekramten Hof. So oft nun aber Frau von Feldern ein bissiges Wörtlein über diese Angelegenheiten fallen ließ, überkam Herrn Schneider ein plötzliches Grausen vor seiner Unordnung, und es war in solchen Zeiten nicht gut Kirschen essen mit ihm. In dieser Stimmung stürmte er denn auch eines Tages, wie er ging und stand, in die Feldernsche Wohnung und teilte der Dame des Hauses mit nicht zu verkennender Genugthuung mit, ihr wohlerzogenes Söhnlein Eduard habe ihm eine feine Göttingerwurst aus einer seiner Kisten im Hofe gestohlen.

Frau von Feldern rief ihren Aeltesten herbei, dem noch verräterische Spuren an den Fingern klebten, und nun wurde vor den Augen des Klägers die Strafe an dem kleinen Verbrecher vollzogen. Sie fiel aber so aus, daß es dem im Grunde höchst gutmütigen Manne himmelangst wurde und er, sich selber verwünschend, der unbarmherzigen Frau ein Halt ums andre zurief. Aber sie hörte erst mit Zuschlagen auf, als ihr der Atem ausging.

„Erziehung ist alles,“ sagte sie zu Herrn Schneider, „wissen Sie, wir erziehen unsre Kinder; was kostet die Wurst?“

Herr Schneider bückte sich zu dem dumpfschluchzenden Buben nieder und suchte ihn aufzuheben.

„Was kostet die Wurst?“ wiederholte Frau von Feldern.

„Ach Gott, was wird sie gekostet haben,“ stammelte Herr Schneider. „Schweiß bat sie gekostet – wie kann man ein Kind so schlagen!“

„Kümmern Sie sich nicht um meine Kinder; wenn Sie mich aber wieder beehren sollten, so bitte ich mir aus, daß Sie in einem anständigen Rock erscheinen; Sie nehmen diese zwei Mark!“

Er war so verlegen und geniert, daß er that, was sie wollte, und sich schleunigst zur Thür hinaus drückte. Drüben knirschte er freilich, daß er sich von der hochnäsigen Person so hatte dran kriegen lassen; im tiefsten Innern aber quälte er sich um den geprügelten Jungen und konnte sich nicht genug schämen, ihn angezeigt zu haben.

Der folgende Tag war ein Sonntag; Eduard stand unter der halbgeöffneten Hofthür mit einem Ausdruck dumpfer Wut und nagte an der Unterlippe; er war noch immer in der Strafe für seine That, hatte bei Tisch nur Kartoffeln bekommen und sollte nicht zum Sechsuhrthee erscheinen. Der Sonntag war aber Mamas „Jour“, da ging’s ihm immer am besten, denn da war die Aufsicht keine so strenge. Er stand und starrte die Linde an, die, schmuck und jungbelaubt, ihre Zweige zum Himmel streckte. Aber dem bestraften Sünder war’s heute nicht ums Klettern zu thun; aus Verdruß und Langerweile sah er der kleinen Gustel zu, die im Hofe mit ihren Puppen spielte und ein gar geschäftiges und lebhaftes Wesen an den Tag legte. Sie war ein kleines kraushaariges Dingelchen mit den treuherzigsten Augen der Welt, und ihr Vater hatte keinen Augenblick Ruhe vor ihr. Er saß auf der Treppe des Eßstübchens, in seine Zeitung vertieft; kam dann die Kleine und klagte: „Vaterle, mein Pupple ist krank“ und legte er – dabei aber immer weiterlesend sein Gesicht in tausend Verzweiflungsfalten, so war das Kind zufrieden und lief wieder fort. Zuweilen aber weinte er, wenn er lachen sollte, oder umgekehrt, und dann wurde er gehörig gescholten, war gar kein „liebs Vaterle“ und hatte alle Mühe, sich wieder in Gunst zu setzen. Schließlich stellte er den Frieden durch ein großes Butterbrot her, auf das er noch außerdem Zucker streute. Nun war die Kleine zufrieden, stellte sich mitten in den Hof und machte Anstalten, in ihr Vesperbrot zu beißcn, als sie Eduard unter seiner Hofthür entdeckte, dessen Augen mit unverhohlener Gier an ihrem Butterbrot hingen; schnurstracks ging sie auf ihn zu und forderte ihn auf: „Beiß auch –“

Er ließ es sich nicht zweimal sagen und verschlang gleich das halbe Butterbrot. Des freute sich die Kleine und befahl, ihm die andere Hälfte hinhaltend:

„Das auch!“

Es war im Nu weg.

„Bist jetzt satt?“ fragte sie.

Eduard schüttelte den Kopf.

„Ich bin nie satt.“

Da lief sie zu ihrem Vater. „Schnell noch ein Butterbrot, ’s pressiert, Vaterle!“

Herr Schneider, der dem Beginnen der Kinder zugeschaut, beeilte sich, was er konnte, den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, und sah dann mit innerer Genugthuung zu, wie die Kleine den dickköpfigen Jungen fütterte, der mit fabelhafter Geschwindigkeit auch dies zweite Butterbrot vertilgte. Aber auf die Frage der Kleinen, ob er jetzt satt sei, schüttelte er wiederum den Kopf, und erst nach dem fünften Butterbrot kam’s zögernd über seine Lippen:

„Ich glaub’, jetzt bin ich beinah’ satt.“

Da rief Herr Schneider den Jungen zu sich; es war ihm ein wahres Bedürfnis, sich in dessen Augen zu rechtfertigen.

„So oft Du Hunger hast, komme nur und halte mit uns; nur, weißt Du, nehmen darf man nichts, da muß Strafe sein; ich war auch einmal so ein kleiner Knirps wie Du und hab’ tüchtig Schläg’ gekriegt – ja was hab’ ich denn nur genommen? – ich glaube, meines Vaters Taschenmesser: das ist so der Welt Lauf; nun spielt miteinander und laßt mich meine Zeitung lesen!“

Eduard wurde alsbald zum willigen Pferdchen, ließ sich von Gustl vor den Puppenwagen spannen und fuhr mit einem solchen Ungestüm um die Linde herum, daß es ein lustiges Unglück ums andere gab und die Unterhaltung an Abwechslung nichts zu wünschen übrig ließ.

Herr Schneider sah zwar in seine Zeitung hinein, aber seine Gedanken gingen ihren eignen Weg. Natürlich war’s ein Unrecht, den Buben hinter dem Rücken seiner Mutter herauszufüttern, aber wie verlockend, der hochmütigen Person das zu Leid zu thun! Für Eduard konnte die Sache zwar ungünstige Folgen haben; entweder es kam heraus und er erhielt schreckliche Schläge, oder er wurde zum Lügner, um sein Geheimnis festzuhalten, und das war noch schlimmer.

„Nein,“ sagte sich Herr Schneider, „es darf nicht sein, es thut mir sehr leid, aber es darf nicht sein.“

Indes Eduard stellte sich am andern Tag mit so rührender Pünktlichkeit um die Butterbrotzeit ein, daß Herr Schneider seine guten Vorsätze vergaß und den Knaben nach Herzenslust zugreifen hieß.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.


Die Kaiserproklamation in Versailles. Was der Traum der besten Söhne des Vaterlandes fast ein Jahrhundert lang vergeblich gewesen, das heißersehnte Ideal unserer patriotischen Dichter und Kämpen seit den Befreiungskriegen gegen den Korsen – der 18. Januar des glorreichen Kriegs- und Friedensjahres 1871 brachte davon die Erfüllung! Daß die Proklamation der Wahl König Wilhelms des Siegreichen zum deutschen Kaiser sich im Schlosse zu Versailles vollziehen durfte, gehört zu den großartigsten Offenbarungen jener ausgleichenden Gerechtigkeit, die das Dichterwort „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“ kennzeichnet. Die Prunk- und Ruhmsucht desselben französischen Königs, dessen Eroberungsgier unser deutsches Vaterland wieder und wieder mit räuberischen Söldnerscharen überschwemmte, hatte einst das Versailler Schloß sich zum Denkmal errichtet, und die Mehrzahl der Nachfolger Ludwigs XIV. waren seinem Beispiel gefolgt, es mit Bildwerken auszustatten, die Frankreichs „Gloire“ zum Gegenstand hatten. „A toutes les gloires de la France“ steht auf den Flügelbauten des glänzenden Gedändes zu lesen. Der „Spiegelsaal“ vollends, in dem nunmehr vor den versammelten deutschen Fürsten und Heerführern durch Bismarck die feierliche Kaiserproklamation erfolgte, ist ganz im besondern der schmeichlerischen Verherrlichung Ludwigs XIV. und seiner Triumphe über Deutschland geweiht. Die Gemälde an Wänden und Decke sind ein Denkmal jenes Uebermuts, mit dem „König Sonne“ der Eroberungen seiner Feldherren jenseit des

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0051.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)
OSZAR »