verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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dauernde Schädigung zu erfüllen. „Wir schicken,“ wie Kraepelin sich ausdrückt, „das Schiff hinaus in den Dienst auf offener See ohne Probefahrt, ohne zu wissen, ob und wie lange es seetüchtig sein wird.“ Als Prüfuugsmittel für die Ermüdbarkeitbestimmung dienten nun teils Diktate, hei denen die mit der Länge der Arbeitszeit anwachsende Fehlerzahl bestimmt wurde (Sikorski, Hoepfner) – teils Additions- und Multiplikationsaufgaben von einfacher Art. Burgerstein stellte 4 Reihen solcher Aufgahen zusammen, deren jede etwa 10 Minuten Arbeitszeit beanspruchte; diese wurden, zumeist während der ersten Unterrichtsstunden, in Klassen mit 11- bis 13jährigen Schülern vorgelegt, zwischen je 2 Reihen wurde eine Pause von 5 Minuten eingeschaltet, so daß der ganze Versuch 55 Minuten dauerte. Dabei wuchs, wie sich zeigte, anscheinend die Arbeitsleistung oder genauer ausgedrückt die Arbeitsgeschwindigkeit in den einzelnen Versuchsabschnitten, wenigstens bei der größeren Hälfte der Schüler, um etwa 40%, während jedoch gegen 43% der Schüler auch bei dieser leichten und einfachen Arbeit schon ein beträchtliches Sinken der Leistung erkennen ließen. Aber selbst jener anscheinenden Steigerung der Arbeitsleistung stand ein sehr viel beträchtlicheres Anwachsen der Fehlerzahl (um 177%) und der Zahl der Verbesserungen (um 162%) und somit eine sehr hedeutende Abnahme der Güte der Leistung gegenüber. Diese „Ermüdungserscheinungen“ machten sich bereits von der zweiten Versuchsreihe an in wachsender Stärke fühlbar und konnten nur bei der Mehrzahl der Kinder durch die ebenfalls wachsende Versuchsübung, die eine größere Arbeitsmenge, aber bei herabgesetztem Werte der Arbeit, ermöglichte, äußerlich verdeckt werden. Ganz in Uebereinstimmung damit sind auch die über mehrere Schulstunden ausgedehnten Resultate von Laser (wachsende Korrekturenzahl, beständige Abnahme der fehlerfreien Rechner bis zur fünften Schulstunde), während bei den Hoepfnerschen Diktatversuchen sich ein stetiges Anwachsen der Fehlerzahl, und zwar, auf je 100 Buchstaben berechnet, von anfänglich 0,9% bis über 6,4%, herausstellte.
Das Gesamtergebnis aller dieser und vieler anderen Untersuchungen ähnlicher Art, namentlich auch der in letzter Zeit mit sehr genauen und feinen Methoden von Griesbach angestellten Empfindungsprüfungen, ist immer und immer wieder dasselbe, nämlich daß die von der Schule an die Leistungsfähigkeit besonders ihrer jüngeren Schüler gestellten Anforderungen bei weitem über das zulässige Maß hinausgehen. Es ist dabei noch besonders hervorzuheben, daß die Ergebnisse der Burgersteinschen und Hoepfnerschen Versuche unzweifelhaft noch weit ungünstiger hätten ausfallen müssen, wenn nicht Ruhepausen, wie sie sonst im Verlaufe einzelner Schulstunden gar nicht üblich sind, zwischen die Versuchsabschnitte eingeschaltet worden wären: diese Ruhepausen waren aber, wie die Endresultate lehren, viel zu kurz, um den sich immer mehr geltend machenden Einfluß der Ermüdung auch nur annähernd zu kompensieren. Selbst bei Erwachsenen genügen, wie entsprechende Versuche von Kraepelin zeigen, Pausen von 10 Minuten zwischen halbstündigen Arbeitszeiten höchstens ein- oder zweimal, um eine vollständige Erholung zu erzielen, während bei weiterer Fortsetzung des Versuches die Ermüdungswirkung auch hier nicht mehr ausgeglichen wird und die Leistungsfähigkeit somit endgültig herabgeht. Wieviel weniger läßt sich erwarten, daß unsere Schuleinrichtnngen, die durchschnittlich erst nach 50 (und an einzelnen Berliner Schulen sogar erst nach 110 Minuten!) eine kurze Unterbrechung gewähren, bei jüngeren Schulkindern zur Aufrechthaltung der Leistungsfähigkeit bei fünf und nicht selten sogar sechs aufeinanderfolgenden Unterrichtsstunden auch nur im geringsten genügen. Als natürliche Reaktion dagegen entwickelt sich die Unaufmerksamkeit, die, wie Kraepelin bemerkt, geradezu den Wert eines „Sicherheitsventils“ hat, da bei fortdauernd wach erhaltenem Interesse sich die Folgen der geistigen Ueberbürdung noch viel bedrohlicher und unabsehbarer gestalten müßten.
Noch schlimmer und bedenklicher wird übrigens die Sache ohnehin durch den an sehr vielen Orten (besonders in Berlin) wenigstens für die Hälfte der Wochentage beibehaltenen und zum Teil in höchst unzweckmäßiger Weise geordneten Nachmittagsunterricht. Griesbach konnte bei seinen in elsässer Schulanstalten vorgenommenen zahlreichen Empfindungsmessungen, deren schon oben gedacht wurde, den direkten Beweis liefern, daß nach dem Morgenunterrieht das normale Empfindungsvermögen, und damit geistige Erholung, um zwei Uhr nachmittags noch nicht zurückgekehrt ist. Wenn unter diesen Umständen das noch müde Gehirn aufs neue in Anspruch genommen wird, so kann dies, wie Griesbach mit Recht hervorhebt, auf die Dauer zu ernstlichen Schädigungen der Gesundheit führen. Es ist daher, wenn schon durchaus Nachmittagsunterricht sein muß (was ich übrigens bestreite), bei dessen Ansetzung mit größter Vorsicht zu verfahren: statt um 2 Uhr dürfte unter allen Umständen, wie auch G. Richter befürwortet, nicht vor 3 Uhr zu beginnen sein, wodurch freilich die Tagesordnung an den kurzen Wintertagen zumal noeh mehr zerrissen und noch uneinheitlicher gestaltet wird. Auch so haftet dem Nachmittagsunterricht der Vorwurf an, daß bei seinem Hinzukommen, wie Griesbach bemerkt, eine dreimalige tägliche Beanspruchung des Gehirns durch die Schule bedingt wird (zum drittenmal dann, wenn die Kinder sich an ihre oft recht zeitraubenden häuslichen Zchularbeiten begeben). Der Nachmittagsunterricht hat überdies noch so viele anderweitige Nachteile, er bewirkt, namentlich in Großstädten bei den weiten Entfernungen, eine solche Zeitvergeudung und mangelhafte Kontrolle der Schulkinder, solche Störungen des gemeinsamen Familienlebens, Undurchführbarkeit einer einheitlichen und gemeinsamen Tischzeit, und im Zusammenhange damit auch unregelmäßige Lebensweise und Ernährnng der Kinder: er ist zu alledem so unersprießlich und bei einigermaßen rationeller Anordnung des Stundenplans so vollkommen entbehrlich, daß seine fortgesetzte Beibehaltung nachgerade als ein schreiender und nicht zu duldender Anachronismus aufgefaßt werden muß. Die erste, dringendste schulhygieinische Forderung, von der unter keinen Umständen abgegangen werden sollte und die von der öffentlichen Meinung unter Anwendung der kräftigsten Mittel nötigenfalls zu erzwingen wäre, sollte „Fort mit dem Nachmittagsunterricht!“ lauten. Wenn der Wochenlehrplan infolgedessen um 2 oder 3 Stunden hier und da verkürzt werden müßte – um so besser; es dürfte aber kaum nötig sein, da man an so vielen Orten mit 26 bis 30 wissenschaftlichen Lehrstunden in den Unter- und Mittelklassen der Gymnasien, also mit 4 bis 5 Unterrichtsstunden täglich vollständig auskommt.
Eine zweite, wie sich unmittelbar aus dem Vorausgehenden ergiebt, ganz unabweisbare Forderung ist die nach einer Verkürzung der einzelnen Unterrichtsstunden, oder, was damit zusammenfällt, nach einer Verlängerung – und zwar einer im Laufe des Vormittagsunterrichtes stetig fortschreitenden Verlängerung – der Unterrichtspausen. Auch damit ist es bei uns sehr ungleich, aber fast allenthalben recht mangelhaft bestellt; während im Durchschnitt je zwei aufeinanderfolgende Unterrichtsstunden durch Pausen von 15 Minuten getrennt sind (was zusammen 40 Minuten Pause auf eine fünfstündige Arbeitszeit ergiebt), kenne ich auch Schulen, bei denen nur auf jede zweite Unterrichtsstunde eine Erholungspause, die erste von 10, die zweite von 15 Minuten, folgt; im ganzen also nur 25 Minuten bei 5 Stunden Unterricht! Und auch diese so völlig unzureichenden Pausen werden hier und da noch willkürlich verkürzt, lassen sich übrigens bei der räumlichen Unzulänglichkeit mancher Schulgebäude nicht einmal immer in einer für Erholungszwecke angemessenen Weise verwerten. Wie es sein müßte, geht aus den oben mitgeteilten Untersuchungen ohne weiteres hervor; allenfalls würde man sich mit der von dem schon obengenannten praktischen Schulmanne, Gymnasialdirektor G. Richter in Jena, vorgeschlagenen Zeiteinteilung befreunden können, wobei nach der ersten Stunde 10, nach der zweiten 15, nach der dritten 20 und nach der vierten (wenn der Hinzutritt einer fünften Vormittagsstunde unvermeidlich) 30 Minuten Pause stattzufinden hätten, die betreffenden Stunden natürlich dementsprechend verkürzt würden.
Es ist in diesem Zusammenhange bisher absichtlich noch nicht vom Turnunterricht die Rede gewesen, in dem so manche naiverweise das Heil- und Ausgleichsmittel für alle in der geistigen Ueberbürdung beruhenden Schulschäden erblicken, und von dem auf Grund solcher Vorstellungen neuerdings oft eine ganz falsche und verkehrte – man kann geradezu sagen, mißbräuchliche – Anwendung gemacht wird. Man hat insbesondere vielfach gemeint, durch Einschaltung körperlicher Uebungen, sei es am Beginne oder im Verlaufe oder auch gegen Ende des Vormittagsunterrichts, durch diesen „angemessenen Wechsel“ von geistiger Thätigkeit und Muskelarbeit den Folgen der Ueberbürdung auf geistigem Gebiet vorzubeugen oder zu begegnen. Aber dies ist leider ein bei Laien verzeihlicher, jedoch darum nicht minder verderblicher physiologischer Irrtum, den
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0195.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2020)