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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0255.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

über dessen Vergangenheit ein undurchdringlicher Schleier lag, aus geheimnisvollen Gründen der Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit des Sultans sei. Der Umstand, daß Sadyk, der Empfohlene Alis, mit demselben Ansinnen an ihn herantrat wie der Abgesandte des Großherrn, machte den Bey nachdenklich und geneigt, dem Ansinnen Scheriffehs Folge zu geben. „Vielleicht,“ so dachte er, „ist auch der junge schöne Knabe, gerade so wie der häßliche alte Zwerg, ein Abgesandter des Großherrn.“ – Da der Bey aber den Grund seiner Sinnesänderung nicht zu erkennen geben und das geheime Spiel, das an seinem Hofe getrieben wurde, unbeargwohnt beobachten wollte, so sagte er nun: „So sei Deine Bitte gewährt, und möge Dir Dein Vorhaben gelingen! Aber wisse, daß Du Dich eines Verbrechens schuldig machen würdest, solltest Du versuchen, den Bey von Karaman, in dessen Diensten Du stehst, zu hintergehen. Dafür würde ich Dich streng bestrafen.“ – Er blickte Scheriffeh, obgleich er in seinem Herzen keinen Groll gegen sie hegte, fest und finster an, so daß sie die ängstlichen Augen zu Boden schlug, und sagte: „Kehrst Du in drei Tagen nach Karaman zurück, ohne meinen Diener Ibrahim von seinem Gebrechen geheilt zu haben, so sollst Du für Deine Verwegenheit durch zwanzig Schläge auf jede Fußsohle gezüchtigt werden. – Beharrst Du bei Deiner Bitte?“

„Mit Eurer gnädigen Erlaubnis, ich beharre dabei,“ gab Scheriffeh leise zur Antwort.

„So zieh’ mit Allah, der Deinem Vorhaben günstig sei!“

Murad war sichtlich angenehm überrascht, als Scheriffeh ihm mitteilte, sie habe vom Bey die Erlaubnis erbeten und erhalten, einen dreitägigen Ausflug mit ihm machen zu dürfen. „Es ist jetzt, zur Frühlingszeit, in den Bergen und Wäldern so schön,“ sagte sie, „da wollen wir lustwandeln.“

Der Stumme gab durch ein freundliches Zeichen seine Zustimmung zu erkennen. – Nun wurden die Diener, die der Fürst den Freunden zur Verfügung gestellt hatte, beauftragt, zwei Maultiere mit Zelten und Mundvorräten zu beladen und zwei Reitpferde in Bereitschaft zu halten. Auf diesen ritten Murad und Scheriffeh am nächsten Morgen zu früher Stunde aus Karaman hinaus und wandten sich dem nahen Gebirge zu. Die Herzen gingen ihnen auf, als sie unter blauem Himmel und milde leuchtender Sonne durch das blühende grüne Land zogen, das ihnen Lebensfreude entgegenduftete. – Scheriffehs bleiche Wangen hatten sich gerötet und ihre dunkeln Augen strahlten, es war die lieblichste Erscheinung, die man sehen konnte. Murads Augen streiften sie mit bewundernder Freude.

Gegen Mittag erreichte die kleine Karawane ein dunkles Gehölz. Murad und Scheriffeh ließen sich im Schatten eines mächtigen Baumes nieder und nahmen dort ein schmackhaftes Mahl ein. Die Unterhaltung zwischen den beiden Freunden war keine lebhafte, denn Scheriffehs Herz war beunruhigt und sie konnte nicht viel reden, während Murad gar nicht sprach; doch traten niemals schwere Pausen ein. Murad wies auf einen Baum, einen Vogel, den Himmel, und seine Augen sagten: „Wie schon ist es hier!“ – Und Scheriffeh antwortete darauf: „Ja, es ist schön – wunderschön!“ Oftmals begegneten sich die Blicke der beiden, und es waren die Blicke von Menschen, die sich sehr lieb haben. – Einmal lehnte sich Scheriffeh gegen den Baumstamm, an dem sie saßen, zurück, und die dunkeln Augen in die Ferne gerichtet, sang sie mit silberreiner, sehnsüchtiger Stimme eine alte Volksweise, eines von den Keremliedern:

„Getrennt von seinem Lieb zu sein,
Ist unerträglich bittere Pein.
Weh dem, der sie erduldet!
 Schön Asli, kehre wieder!“

„Der größte ist der Liebe Schmerz.
Zerrissen ist mein junges Herz.
O kehr’ zurück, mein Leben!
 Schön Asli, kehre wieder!“

Murad blickte Scheriffeh aufmerksam an, während sie sang. Als sie geendet hatte, schlug er die Augen zu Boden und verblieb lange Zeit in Nachsinnen versunken.

Scheriffeh klopfte das Herz. Sie wollte sich zu erkennen geben, sprechen, den geliebten Gemahl um Verzeihung bitten; – aber sie fand nicht den Mut dazu. „Heute abend vor den Zelten, wenn er mich nicht sehen kann und ich mich weniger vor ihm fürchte – dann werde ich sprechen,“ sagte sie sich. Aber als die Nacht gekommen, war ihr Mut nicht größer geworden, und mit stummem Abschied von Murad zog sie sich traurig in ihr Zelt zurück.

Der zweite Tag verging wie der erste. Murad und Scheriffeh wanderten Hand in Hand wie zwei Freunde durch dunkle Wälder und über grüne Hügel – aber Scheriffeh war beinahe ebenso stumm geworden wie ihr Begleiter. Von Zeit zu Zeit seufzte sie tief. Dann sah Murad sie fragend an; sie fand keine Worte, die stille Frage zu beantworten. Die Brust war ihr wie zugeschnürt. – „Wie klein und fein doch Sadyks Hand ist,“ dachte Murad, und er hätte sie küssen mögen, so lieblich erschien sie ihm – aber er lächelte nur still vor sich hin ob des sonderbaren Gedankens, die Hand des Knaben zu liebkosen. Er fühlte sich unbeschreiblich wohl in dessen Nähe. Er wußte nicht warum.

Die Nacht verbrachte Scheriffeh, ohne Ruhe finden zu können. Morgen mußte die Rückreise nach Karaman angetreten werden, morgen mußte sie sprechen, wenn sie nicht die schwer erlangte Gelegenheit, sich mit Murad zu versöhnen, ungenutzt vorüber gehen lassen wollte. – „Was soll ich thun? Wie soll ich sprechen?“ fragte sie sich immer und immer wieder; aber sie fand keine Antwort.

Am Morgen stiegen die beiden zu Pferde, um den Rückweg nach Karaman schneller zurücklegen zu können. Gegen Mittag rasteten sie zur Mahlzeit. Als sie diese eingenommen und die Diener sich zurückgezogen hatten, erhob sich Scheriffeh plötzlich, kniete vor Murad nieder und sagte leise: „Ich bin Euer unglückliches Gemahl. O, Murad, verzeiht mir!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Murad war schnell aufgestanden und einen Schritt zurückgewichen. Nun wandte er sich ab und näherte sich langsam der Stelle, wo die Diener neben den Tieren lagerten. Er war bleich geworden und an seinem Herzen nagte brennender Schmerz, aber sein trotziger Stolz war stärker als alles. Noch konnte er die Kränkung nicht verzeihen, die ihn so tief verletzt hatte. Nie hätte er sich Aehnlichem wieder aussetzen wollen, und darum hatte er Vater und Mutter und seine Gemahlin verlassen, „für immer!“ – das war seine Absicht gewesen und blieb es noch. Es war ihm leicht geworden, Stambul zu fliehen, jetzt wurde es ihm innerlich schwer, Scheriffeh den Rücken zu kehren. – „Es muß sein!“ sagte er vor sich hin. Er preßte die Zähne zusammen, und sein schönes Antlitz, das kurz vorher noch in Freude geleuchtet hatte, nahm einen finstern Ausdruck an, so daß die Diener, als er an sie herantrat, erschrocken aufsprangen und sich beeilten, alles zur Weiterreise vorzubereiten.

Murad und Scheriffeh ritten stumm nebeneinander her. Der Mut des armen Mädchens war gebrochen. Sie wagte es nicht, noch ein Wort an ihren Begleiter zu richten. Alle ihre Hoffnungen waren vernichtet. Sie wünschte sich den Tod. – Die beiden langten zu später Stunde in Karaman an und trennten sich voneinander, ohne daß Murad Scheriffeh eines Blickes gewürdigt hätte. Aber er verbrachte eine schlaflose Nacht.

Am nächsten Morgen begab sich Scheriffeh zum Bey und berichtete in kurzen, verzweifelten Worten von dem gänzlichen Mißerfolg ihrer Aufgabe.

„So sei der verdienten Strafe gewärtig,“ sagte der Bey mit finsterer Miene. In seinem Herzen hatte er nie die Absicht gehegt, Sadyk züchtigen zu lassen; aber der Knabe sollte geängstigt werden, zur Strafe, gegen den Wunsch seines Herrn gehandelt zu haben, und sodann, weil der Bey annahm, die Furcht vor der Züchtigung könnte Sadyk zur Offenbarung seines Geheimnisses treiben. Er ließ deshalb, nachdem dieser ihn verlassen hatte, den am meisten gefürchteten Beamten seines Hofes, Chosref, den Nachrichter, zu sich bescheiden und sagte ihm, Sadyk sei verurteilt worden, zwanzig Schläge auf die Fußsohlen zu empfangen. Alles sei dazu vorzubereiten. – „Nun habe acht, was ich Dir im geheimen sage,“ fuhr der Bey fort. „Wenn Sadyk auf dem Richtplatz erschienen ist, so legst Du harte Hand an ihn und drückst ihn unsanft zu Boden. Dann, nachdem er gebunden worden ist, hebst Du den Stock zum Schlage; aber er darf – bei Deinem Leben – Sadyk nicht berühren. Du hast verstanden?“

„Ich habe verstanden.“

„Niemand, wer immer es sei, darf von diesem geheimen Befehl wissen. Sprächest Du davon, so wäre es Dein Tod.“

„Ich werde schweigen.“

Die Nachricht von der Verurteilung Sadyks verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Schloß. Alle bemitleideten den armen Knaben und staunten ob der grausamen Härte des Bey.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0255.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
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