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Abessinien und seine Geschichte.
Als vor einem Jahrzehnt die „Teilung von Afrika“ stattfand, trat auch Italien in die Reihe der Kolonialmächte und hißte seine Flagge auf der Insel Massaua im Süden des Roten Meeres. Der Küstenstrich, den es unter seinen Schutz stellte, war nicht besonders verlockend, eine öde Gegend erstreckt sich hier, berüchtigt durch das heiße fiebererzeugende Klima, bewohnt von wilden räuberischen Stämmen. Aber Massaua ist der Ausfuhrhafen Abessiniens und auf dieses Hinterland der öden Küste hatten die Italiener im stillen ihr Auge geworfen. Die blaue Gebirgsmauer, die im Norden von Massaua sich auftürmt, war das Ziel ihrer Wünsche und sie wußten wohl, daß jenes Hochland unter den sonnverbrannten Ländern Afrikas eine der wenigen kostbaren Perlen bildet.
Abessinien war ja seit lange kein unerforschtes Land. Zahlreiche Forschungsreisende hatten es durchquert und über seine Natur und Bevölkerung genauere Kunde nach Europa gebracht – und wie farbenprächtig waren diese Schilderungen!
Auf steilen Pfaden zieht der Reisende von der Küste landeinwärts, und kaum hat er siebzig Kilometer zurückgelegt, so befindet er sich bereits in einer Hohe von 2000 m über dem Meeresspiegel; ein Bergland dehnt sich vor ihm aus, das an Großartigkeit der Eindrücke einzig in seiner Art sein dürfte und an Umfang die Schweiz etwa zehnmal übertrifft. Wohl fehlen ihm die Gletscher, aber auf seinen höchsten Zinnen erglänzt häufig der Schnee. Vulkanische Kräfte haben in grauer Vorzeit diese Bergrücken emporgehoben, dann nagten an ihnen Wind und Wetter und verliehen dem Hochland im Laufe von Jahrtausenden die wildromantischen Charakterzüge, die es heute aufweist. Malerisch sind in der That die Landschaften Abessiniens. Tiefe Schluchten durchziehen das Gebirge, dazwischen ragen gewaltige Felsmassen wie Pfeilerreihen, Domkuppen oder Pyramiden empor, oft gestalten sie sich zu Tafelbergen, die, schwer zugänglich, mitunter nur mit Hilfe von Leitern erstiegen werden können. Das sind die „Amben“, die manchmal so weit sich ausdehnen, daß sie Dörfern, Ackerfeldern und Weiden für zahlreiche Herden genügenden Raum bieten, das sind die natürlichen Festungen dieses Landes, auf deren Höhen die Einwohner gern ihre Burgen errichten. Es giebt wohl in Abessinien dürre, wasserarme Strecken, aber in höheren Regionen, wo reichliche Regen fallen, fehlt es nicht an schäumenden Bächen, die in Wasserfällen in die finsteren Schluchten stürzen, und aus den Thälern und Hochebenen blinken blaue Seen zum Himmel empor. Der berühmteste und größte von ihnen ist der Tanasee, der den Grund eines Riesenkraters ausfüllt und etwa achtmal so groß ist wie unser Bodensee. Wo Wasser rauschen, da ist die Erde fruchtbar und die Berge Abessiniens kleiden sich mit reichem Pflanzenschmuck. Wer da bergauf bergab, über steile Grate und tiefe Thäler wandert, der schaut die Flora fast aller Zonen der Erde. Er sieht in heißen Gründen Palmen und Bananen, die Kinder der Tropen, und findet alpine Pflanzen auf den Zinnen des Hochlands. Dazwischen grünen auf Uebergangshöhen der Kaffeestrauch und der wilde Oelbaum, eigenartige, kandelaberförmige Euphorbien strecken ihre Aeste aus, Sykomoren beschatten menschliche Wohnungen, neben dem Tabak reift die Weinrebe, Akazien und Tamarisken schließen sich zu Wäldern zusammen, neben Bohnen und Erbsen wogen im Winde die Aehren unserer nordischen Getreidearten und über den Weizen- und Gerstefeldern erstrecken sich Alpenmatten mit köstlicher Weide für einen starken Pferdeschlag, der hier gezogen wird, für große Herden der Sangarinder, für wollige Schafe und muntere Ziegen. Auch fehlt es nicht an Wild und Geflügel in Wald und Sumpf; neben der leichtfüßigen Antilope schreitet hier mächtigen Schrittes der Elefant einher, in den Gewässern schnaubt das plumpe Nilpferd und durch die Nächte tönt das markerschütternde Gebrüll des Löwen.
Am köstlichsten ist aber in diesem Hochlande das Klima. Frische kühle Lüfte wehen um die Bergspitzen; hier spürt man wenig von der entnervenden Fieberglut der tropischen Tiefebene; hier könnten wohl selbst Europäer als Ackerbauer sich niederlassen und hinter dem Pfluge gehen.
Mit solchen Vorzügen von der Natur ausgestattet, ist Abessinien zweifellos ein Land, das sich kolonisieren ließe.
Aber dieses Hochland war nicht herrenlos, als die Italiener ihm nahten. Ein Volk, eigenartig wie die Natur Abessiniens, hält es besetzt; obwohl dunkelhäutig, ragt es doch hoch über alle Negerstämme Afrikas empor; von Ackerbau und Viehzucht sich nährend, ist es im Besitz einer alten Kultur, bekennt das Christentum seit anderthalbtausend Jahren, und wohlerfahren in den Künsten des Gebirgskrieges, wußte es stets seine Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren. Wie hoch auch die Wogen der Völkerwanderungen im Laufe der Geschichte über Nordostafrika sich ergießen mochten, sie zerschellten doch an den Felsen Abessiniens. Diese eiserne Zähigkeit im Widerstand gegen alle Angriffe von Heiden und namentlich Mohammedanern hat seit jeher dem abessinischen Volke die Sympathien Europas gesichert; wir achten diese heldenmütigen schwarzen Christen und legen für die Beurteilung der Zustände in ihrem Lande einen besonderen Maßstab an. Wenn auf diesen Bergen und in diesen Thälern gar vieles recht kunterbunt ausschaut, so ist das zu entschuldigen, denn der Lauf der Weltgeschichte hat Abessinien von der Kulturwelt getrennt und es gewissermaßen zum Stillstand, der ja im Leben immer einen Rückschritt bedeutet, gezwungen.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0284.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)