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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0290.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Tage verleben zu wollen schien. Karl und Ludwig, durch die verbindliche Wendung des Vaters: „Ihr könnt jetzt für ein paar Stunden spurlos verschwinden!“ ermutigt, zogen sich in das Zimmer des ältesten Bruders zurück. Sie schwelgten in dem für die Kindheit und Jugend entzückenden, für das reifere Alter tief verstimmenden Bewußtsein, daß es sich nicht lohnte, zu Bett zu gehen, da man, der verschiedenen Dampferverbindungen wegen, nachts um halb drei Uhr abfahren mußte.

Die Brüder saßen friedlich – nicht der tägliche Zustand! – nebeneinander auf dem Schlafsofa an der Mittelwand, unter der Dekoration von verschiedenen Mützen, die Karls Aufrücken von der Sexta bis zur Untersekunda in den Farben des Regenbogens versinnbildlichten, bis die rote Mütze der Obersekunda nebst drei Kotillonorden die Höhe des bisher Erreichten und Erlebten anzudeuten hatte. Karl brach zuerst das gedankenvolle Schweigen. „Er darf nicht mit!“ sagte er düster.

Ludwig schüttelte betrübt den Kopf – er fühlte, wie ihm der Jammer schon in der Kehle saß, und sprach nicht mehr, um nicht in ein Wehmutsgeheul auszubrechen.

„Wenn er es sich nur nicht zu sehr zu Herzen nimmt!“ fuhr Karl mit auch bereits etwas bebender Stimme fort, „wenn er die ganze Zeit nicht frißt – wenn er verhungert!“

„Ach, hör’ doch auf!“ flehte Ludwig mit den Gurgeltönen mühsam bekämpften Schluchzens.

„Wenn er verhungert – ausstopfen lasse ich ihn aber nicht!“ fügte Karl mit dem letzten Rest seiner männlichen Energie hinzu, „das finde ich gräßlich!“

Aber dieser Gedanke war zu viel für Ludwigs Fassung.

„Stille bist Du!“ brach er los, und indem er, seiner Rührung sich schämend, mit beiden kleinen Fäusten auf den Bruder losdrosch, brüllte er geradezu vor Jammer: „Ich lass’ ihn nicht hier – und ich lass’ ihn nicht hier – er frißt nicht bei Portiers, und das kann er ja gar nicht vier Wochen aushalten!“

Das Resultat dieser Unterhaltung war, daß Karl sämtliche Taschen seines Portemonnaies umdrehte und darin zwei Zehnpfennigstücke, ein gepreßtes Vergißmeinnicht und ein Fünfzigpfennigstück fand – für seine gewöhnlichen Geldumstände noch ein ganz solider Befund. Ludwig erfreute sich dagegen durch den Besitz einer thönernen Sparbüchse von geizigem Charakter, die nichts wieder hergab, was ihr schiefes Maul einmal verschlungen hatte, eines beträchtlichen moralischen und pekuniären Uebergewichts über seinen Bruder. Ein Fußtritt gegen die Hüterin des Kapitals und sie lag klirrend in Scherben – was aber über ihren Inhalt beschlossen wurde, das werden wir im Verlauf dieser wahren Geschichte erfahren.

Der nächste Tag dämmerte herauf. Die sehr überwacht dreinschauende Familie fand sich in der angenehm schaurigen Morgenkühle zusammen, die letzten Gegenstände wurden noch in die Koffer gesteckt. Die Köchin, hocherfreut, ihre Herrschaft auf vier Wochen los zu werden, hatte mit dem Rest der vorhandenen Kaffeebohnen einen heißen, starken Göttertrank gebraut und entließ die Abreisenden mit viel Gefühl, indem sie sich mit dem Schürzenzipfel wenigstens über ein Auge fuhr, um doch etwas zu thun.

Der Vater war nach der Bahn vorausgegangen, um für sich und die Seinigen in dem stark überfüllten Ferienzuge Plätze zu suchen – der Rest der Familie folgte mit dem Gepäck.

Dieses letztere hatte sich übrigens noch um einen großen, geheimnisvoll aussehenden Spankorb vermehrt, der mit Zeitungspapier verbunden war und von Ludwig getragen wurde. Auf die halb zerstreute Frage der Mutter: „Was hast Du denn da?“ hatte der glückliche Besitzer etwas Unverständliches gemurmelt, und da im selben Augenblick der Droschkenkutscher erschien und wie ein Stoßvogel über den Koffern schwebte, gingen Ludwig und sein Spankorb in der allgemeinen Aufregung unter und man fuhr in die Morgenkühle hinaus.

Im letzten Augenblick auf dem Bahnhof hatten sich die Jünglinge noch einmal „verkrümelt“ und wurden vom Vater unter einigen Kraftwendungen gesucht, bis sie sich endlich in etwas verstörtem und verlegenem Zustande einfanden und mit ihren Lieben in ein Coupé gestopft wurden. Daselbst befanden sich schon verschiedene Mitreisende, da es keiner der bekannten Zellenkäfige, sondern ein „Abteil“ mit Wandelgängen und lauschigen Plätzen war, was den Eindruck des Inhaftiertseins wohlthuend abschwächte.

Die Coupégenossen der Familie Bergmann bestanden zunächst aus einem Ehepaar, welches sich schon auf dem Perron dadurch auffällig gemacht hatte, daß es das ganze Menschengewühl, das Expedieren der Koffer und sonstige trennende Lebensverhältnisse Arm in Arm durchlebt hatte. Im Augenblick des Einsteigens mußte ja der Herr, der in seinem Aeußern etwas von einem Geistlichen hatte, seine Lebensgefährtin loslassen – aber kaum saßen beide, als er ihr von neuem den Arm bot, so daß sie die Eisenbahnfahrt in eingehaktem Zustande zurücklegten.

Die Jungen hatten mit ihrem Spankorb ihre Plätze dem Ehepaar gegenüber gefunden. Beide, Mann und Frau, sahen unendlich gutmütig aus und nickten unserem Freund Ludwig liebevoll zu, der sich nach Jungenart dadurch unsäglich blamiert vorkam und sofort zum Fenster hinausguckte. Bald aber wendete er, ebenso wie Karl, seine Blicke wieder auf das unentwegt eingehakte Paar und beide betrachteten dies Naturschauspiel mit so unbegrenzter Belustigung und Neugier, daß der Vater sie in eine andere Ecke des Wagens verwies.

Dort blieb ihnen nur der Trost, daß sie den ihnen so wohlwollend gesinnten Ehemann mit dem Namen „der eingehakte Pastor“ bedachten und mit fieberhafter Aufregung aufpaßten, ob er sich etwa aushaken werde, was er aber nicht that.

Die Platzveränderung sollte sich als folgenschwer erweisen.

Der ganze Sitz, dem gegenüber Karl und Ludwig sich niedergelassen hatten, war von einem Herrn eingenommen, der sich beim Nahen der landgerichtsrätlichen Familie durch ein dumpfes Knurren als ungesellige Natur zu erkennen gegeben hatte.

Es war ein großer, hagerer Mann Mitte der fünfziger Jahre, mit einer Nase, die aussah, als wenn sich einmal jemand aus Versehen oder Bosheit darauf gesetzt hätte, und mit einem groben Munde, über dem ein grauer Schnurrbart herabhing wie schlecht gekämmte Fransen an einer Theeserviette.

Hatte also der Geist sich diesen Körper gebaut, so mußte es unbedingt ein häßlicher Geist sein. – Schon als unsere Reisenden mit der gebührenden Bescheidenheit des erzogenen Menschen einstiegen, offenbarte sich die betrübende Thatsache, daß die Anmutlosigkeit des alten Herrn sich nicht nur aufs Aeußere erstreckte. Er wachte auf, rieb sich die Augen was schon bei jungen und schönen Leuten kein kleidsamer Augenblick ist – und rief, als er Ludwig erblickte, mit einem so wütenden Entsetzen aus: „Ach, ein Junge!“ als wenn das ein Geschöpf wäre, von dem er wohl in schauerlichen Sagen gelesen hätte, das ihm aber in Wirklichkeit nie zu Gesicht gekommen wäre.

Dann lieferte er den feinen Zug zur Charakteristik unausstehlicher Reisender, daß er seine Gehwerkzeuge wie Schlagbäume vor den Zugang zu den Plätzen seiner augenblicklichen Lebensgefährten einstemmte und erst durch wiederholtes flehentliches Bitten sich so weit rühren ließ, daß er sie einige Centimeter weit beiseite schob.

Hierauf zählte er laut und vorwurfsvoll das Handgepäck mit der Randbemerkung: „Acht Stück Handgepäck – das ist echt!“ eine Wendung, die er zu lieben schien. Das Unterbringen dieser acht Stück oberhalb seines Kopfes schien ihn mit grenzenloser Angst zu erfüllen, er stierte zornig und verschlafen um sich, und sowie eine Tasche oder Schachtel hinauf befördert wurde, schrie er mit so furchtbarer Stimme: „Na na!“ oder „Vorsicht!“ als wenn eine Dampfwalze ins Hutnetz gehoben würde.

Auch machte er jeden, selbst wer nicht die entfernteste Neigung zum Rauchen bezeigte, mit großer Energie darauf aufmerksam, daß hier ein Nichtraucher-Coupé wäre und daß er sich unbedingt beschweren würde, sobald jemand eine Cigarre auch nur in die Hand nähme. Kurz, wenn sich der alte Herr auf der Badereise befand, so konnte man mit Fug und Recht annehmen, daß er sich in einen Kurort begäbe, der gegen Unausstehlichkeit verordnet wird, und ihm von Herzen guten Erfolg wünschen.

Da dem bösen alten Wicht aber niemand den Gefallen that, sich ordnungswidrig zu betragen, da sogar der gefürchtete „Junge“ sich sehr gesittet – für den Kenner unheimlich gesittet! – verhielt, so schlief der Alte, von der Enttäuschung angegriffen, sofort wieder ein und schnarchte während der nächsten Stunden so laut und so gewissermaßen krachend, daß die Mitreisenden von Zeit zu Zeit aus ihren Nickerchen mit dem dumpfen Gefühl emporfuhren, daß ein Centner Steinkohlen auf das Coupé ausgeschüttet würde.

Mit der aufsteigenden Sonne – wenn auch nicht so schön wie sie – erwachte der Schnarchkünstler übrigens, warf dann einen wilden Blick umher, um zu erkunden, ob ihn etwa während seiner Morgenruhe jemand ohne sein Wissen angefallen oder umgebracht habe, und begann dann seine Morgentoilette zu machen. Er bearbeitete zu diesem Zweck die paar Haare, die den Rest seines einst gewiß ansehnlichen Vermögens an Locken bildeten, wütend und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0290.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
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