verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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hatten Pläne bei sich, in welche sie mit Farbstiften die Bewegungslinien des ins Laufen geratenen Berghanges einzeichneten; drei Geometergehilfen waren mit Wasserwage, Meßlatte und Erdbohrer emsig bei der Arbeit. Der Pfarrer des Dorfes, der Bürgermeister und zwei Gemeinderäte begleiteten die Kommission, um die kurzen, knapp gestellten Fragen mit redseligem Eifer zu beantworten. Und hinter ihnen, als dreizehnter, folgte in bescheidener Entfernung ein alter Bauer, um den sich niemand kümmerte. Er war nicht, wie die anderen, aus dem Dorfe heraufgekommen – drüben auf einem nahen Wiesenhang stand sein kleines Heimwesen, das der unheimliche Bergrutsch zu verschlingen drohte. Und als er die Herren gesehen hatte, war er von der Rettungsarbeit weggelaufen, um ein Wort des Trostes zu hören, einen Schimmer von Hoffnung für sein versinkendes Häuschen zu empfangen.
Seine ganze Kleidung bestand aus einem mürben Rupfenhemd und einer blauen, schon verwaschenen Leinwandhose, welche Häubchen an den Knien hatte und deren Bund von den Hosenträgern zu Zacken ausgedehnt war. Alter und schwere Arbeit hatten seinen müden Körper gebeugt – er stand mit hängenden Knien und seitlich geneigtem Kopf. Die weißen Haare waren glatt in die Stirn gestrichen – ein von zahllosen Furchen und Fältchen durchschnittenes Sorgengesicht mit rotgeränderten, kummervoll blickenden Augen. Er hatte die dürren, schwieligen Hände auf dem Rücken liegen, seine Finger zitterten, und fortwährend bewegte er die welken Lippen, als möchte er eine Frage stellen und fände nicht den Mut dazu.
Da klang hinter ihm die Stimme Purtschellers: „Grüß Gott, Simmerauer! Was is denn los da?“
Der Alte blickte auf, und da er kein Käpplein abzuziehen hatte, strich er mit der Hand übers weiße Haar. „Die gealogisch Kammissoni is da!“ erwiderte er – ganz leise, als hätte er Sorge, daß jedes laute Wort den wichtigen Vorgang stören könnte.
„So, so?“ Breitspurig, im Vollgefühl seiner Persönlichkeit, ging Purtscheller auf die Herren zu und lüftete ein klein wenig das grüne Hütchen. „Grüß Gott, Ihr Herren miteinander! Fleißig bei der Arbeit, ja?“
Der Pfarrer dankte für den Gruß, der Bürgermeister und die beiden Gemeinderäte zogen höflich den Hut; doch von den fremden Herren schien es keiner zu beachten, daß sich die Gesellschaft um eine so bedeutungsvolle Persönlichkeit vermehrt hatte – sie waren gerade mit einer Erdprobe beschäftigt, die der Bohrer aus der Tiefe des Grundes emporgehoben hatte.
Purtschellers Gesicht färbte sich dunkelrot, und seine Augen funkelten; diese Mißachtung seiner Person hatte ihn beleidigt. Einer der Gemeinderäte merkte das und machte einen schüchternen Versuch, dem Purtscheller-Toni zu dem ihm gebührenden Respekt zu verhelfen. Aber die gelehrten Herren waren über den breinassen Lehm, den der Bohrer gefördert hatte, in eine so lebhafte Debatte geraten, daß sie für nichts anderes Ohr und Auge hatten.
Eine Weile stand Purtscheller schweigend und kaute am Schnurrbart; dann plötzlich wandte er der Gesellschaft ohne Gruß den Rücken und stapfte über den Hang hinunter; lachend, doch mit hellem Aerger in der Stimme, rief er über die Schulter zurück: „Gelt, Bürgermeister? Wenn’s ans Zahlen geht, nachher kannst mich auch auf der Seiten stehen lassen! Mich geht ja die ganze G’schicht’ nix an! Mein Haus und Hof is net in G’fahr!“
Der Bürgermeister machte große Augen. „Aber geh, Toni, was hast denn?“
„Ja, ja! Is schon gut! Ein andersmal!“ Purtscheller winkte dem alten Simmerauer. „Komm, Michel, uns zwei kann man da net brauchen!“
Man sah es dem Alten an, daß er gern geblieben wäre; aber er brachte es doch auch nicht fertig, zu der ehrenvollen Erlaubnis, den Herrn Purtscheller ein Stücklein Weges begleiten zu dürfen, seinen weißen Kopf zu schütteln. So hielt er sich humpelnd an der Seite des Jägers; dabei blickte er aber immer wieder über die Schulter zurück und lauschte, ob er von den verhallenden Stimmen nicht doch ein tröstendes Wörtlein noch erhaschen könnte.
Die leuchtenden Fäden flogen den beiden entgegen, hafteten an ihrem Gewand und legten sich über ihre Gesichter. Besonders auf den alten Simmerauer hatten sie es abgesehen. Immer wieder mußte er solch ein schimmerndes Ding von seinen Lippen oder von seinen Augen lösen. Aber diese zähe Mühe machte ihn nicht unwillig. „Schauen S’ nur, Herr Purtscheller, wie alles glitznet!“ sagte er mit seiner müden Stimme. „So hat der Altweibersommer noch nie net g’sponnen, seit ich leb’! Sechzig Jahr’ lang! Aber so was hab’ ich noch nie net g’sehen!“
„Wenn die Spinnfäden so fliegen, sagt man, das bedeutet ein’ harten Winter!“
Der Alte seufzte. „So ein Glück! Ja! So ein Glück, wenn käm’!“
„Freilich! Wenn’s ein’ richtigen Frost machen thät’, da möcht’ der Berg ’s Laufen bald aufhören.“
„Was sagen S’, Herr Purtscheller, was er auf einmal für G’schichten macht! So ein närrischer Berg! So viel tausend Jahr’ hat er ein’ Fried’ geben! Und über Nacht fangt er solche Sachen an! Wie ein alter Mensch, der sein ganz’ Leben lang vernünftig und nüchtern war … und jetzt hat er den ersten Rausch!“ Michel wandte das Gesicht und drohte mit erhobenem Finger zu den grauen Felswänden hinauf. „Alterl! Alterl! das is net recht von dir! Das hat dir auch net der liebe Herrgott ein’geben! Na! Da hast auf’n Teufel g’hört!“ Seine kummervollen Augen irrten über das verwüstete Gehäng. „Und gar kein G’nügen hat er nimmer! Die besten Wiesen frißt er, den schönsten Wald streicht er wie Butter aufs Brot und ein Häusl ums ander’ schluckt er! Vor acht Tag’ is dem Pichler ’s seinige g’fallen, gestern is ’s Häusl vom Mitterhuber eing’sunken bis ans Dach, daß die armen Leut’ durch’n Rauchfang haben ’rausschliefen müssen! Und’s meinige …“ Die Stimme brach ihm. Er faßte Purtschellers Arm und deutete mit zitternder Hand ins Thal hinunter. „Sehen S’ den Kirchturmknopf? Wie er glänzt in der Sonn’?“
„Ja, Michel! Warum fragst denn?“
Es zuckte um die Lippen des Alten, als er mühsam Wort um Wort vor sich hinstieß: „Den Kirchturmknopf … über’m Wald da drunten … gestern am Abend hab’ ich ihn von meiner Hausthür aus noch glänzen sehen … aber heut … heut in der Fruh … da is er verschwunden g’wesen!“
„Michel!“
„Und der Wald da drunten is doch net g’wachsen über Nacht? Und die Kirch’ im Ort, die hat sich doch auch net vom Fleckl g’rührt? … Also?“
„Jesus Maria! Michel! Um so viel is Dein Häusl g’sunken in der Nacht?“
„’s Häusl net! Aber der Boden, wo ’s draufsteht, mit’m Garten, mit die Aepfelbäum, mit allem!“
Purtscheller schwieg und betrachtete den Alten in Mitleid und ehrlicher Sorge. Dann blies er die Backen auf, als wäre ihm schwül geworden, und sagte: „Michel! … Wenn’s krumm geht und Du brauchst was … schenier’ Dich net und komm zu mir! Für so ein’ braven Menschen, wie Du einer bist, für so ein’ hab’ ich allweil offene Händ’!“
Ein dankbarer Blick leuchtete aus Michels Augen zu Purtscheller auf; doch er schüttelte den weißen Kopf. „Vergelt’s Gott tausendmal für den guten Willen! Aber betteln thu’ ich net! Ich glaub’ noch net dran, daß mein Häusl nunter muß! Ich hilf mir schon noch! Ich selber! Ja! Und einer, das weiß ich, einer hilft mit!“ Sein Blick suchte den blauen, leuchtenden Himmel.
Sie mußten eine breite und tiefe Erdspalte überklettern, welche den Wiesenhang quer durchrissen hatte.
Als der Blick in das Thal vor ihnen wieder offen lag, sagte Michel: „Schauen S’ nur, wie die weißen Mauern vom Purtschellerhof schön raufleuchten! Sie haben’s halt gut! Der Purtschellerhof braucht sich vor keiner Nacht net fürchten!“
„Ja! Mein Haus steht fest! Da wackelt nix! Das hat g’sunden Felsboden und dicke Mauern! Da kann der Berg laufen, wie er mag!“ Purtscheller nickte lächelnd und blickte mit stolzem Behagen auf seinen stattlichen Hof hinunter, der, von einem baumreichen Wiesgarten umzogen, mit seinen Ställen und Scheunen wie ein Dörflein inmitten des Dorfes lag. Aber aus diesem stolz zufriedenen Gefühl heraus erwachte in Purtscheller der Gedanke, daß es doch eigentlich recht grausam wäre, sich seines reichen, ungefährdeten Besitzes zu freuen, während man den Jammer sah, der so deutlich aus Michels Blick und Zügen redete. Da wäre wohl ein tröstender Zuspruch viel eher am Platze. „Ja, schau, mußt mich net beneiden um mein Glück! Weißt, jeder Mensch hat Sorgen, der reiche gerad’ so wie der ärmste! Kannst mir’s glauben, Michel … ich bin der Purtscheller … aber mir steigen oft vor
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0391.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2023)