verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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Sie ist im Nu die Stufen hinunter und hält die schmächtige, kleine Gestalt in ihren Armen, kniet neben Fredy hin, fühlt seine Hände, sein Gesicht an und küßt ihm die weichen Haare, die Wangen, den Mund.
„Mein Mamachen!“ sagt er mit zärtlicher Betonung und schmiegt sich fester an sie. Er ist es gewohnt, so zärtlich empfangen zu werden. Immer ist es ihr nach jeder solchen Entfernung, als hätte sie ihn tagelang nicht gesehen.
„So lange seid ihr weggeblieben, Elise! Es ist doch wenigstens eine halbe Stunde später!“
Elise zieht die kleine silberne Uhr, ein Geschenk ihrer Herrin.
„Zwanzig Minuten sind’s gerade, gnädige Frau!“
„Aber wie konntet ihr solange fortbleiben? Er ist doch wohl gewesen? Hat ihm sein Frühstück geschmeckt? Hat er alles gegessen?“
„Nicht ganz, er ist immer so schnell satt!“
„Aber, Liebling, ist das nun hübsch? Wer wird denn nicht vernünftig essen?“
„Wenn ich doch nicht mehr kann, Ma’chen?“
„Nun, quälen soll sich mein Kleiner nicht! Aber jetzt rasch: weshalb kamt ihr so spät?“
„Ja, wir hatten Besuch auf der Wiese, gnädige Frau: Herrn Baron von Trutzberg mit einem anderen Herrn!“
Die Hände, die das Kind umfassen, werden mit einem Male schlaff.
„So – hattet ihr? Also wie – und da habt ihr geplaudert – und da war – erzähl’ doch, Fredy!“
Sie fühlt sich verlegen wie ein sechzehnjähriges Mädchen – was muß Elise denken!
Fredy macht sich sanft von seiner Mama los und sagt kein Wort.
„Nun, Liebling, sind wir ganz stumm?“
Ein erzwungenes Lächeln, ein verlegenes Hin- und Herwenden des Köpfchens ist die ganze Antwort.
„Also wird Elise mir erzählen!“
„Ich muß Fredy ein bißchen verklagen, gnädige Frau! Er ist wieder gar nicht freundlich gegen den Herrn Baron gewesen, trotzdem gnädige Frau es ihm doch extra befohlen haben und ich ihn daran erinnerte. Herr von Trutzberg haben ihn wieder so schön beschenkt, mit einer reizenden Eidechse, und Fredy hat nicht mal von selbst Schön Dank gesagt …. ich hab’ ihn dazu mahnen müssen. Mach’ jetzt wenigstens die Bestellung an Mama, die Herr Baron Dir aufgetragen hat.“
„Du sollst heut’ nachmittag in den Wald kommen!“
„Aber Fredy, so hat Herr von Trutzberg doch nicht gesagt! Wenn das Wetter schön wäre, würde er glücklich sein, mit der gnädigen Frau im Wald zusammenzutreffen – das war’s! Und Herr Baron haben sich so gewünscht, daß Fredy ihn Onkel nennt, aber Fredy war nicht dazu zu bewegen!“
„Elise, bitte, drinnen steht noch mein ganzes Frühstücksgerät. Räumen Sie ab, hängen Sie auch mein Morgenkleid weg, aber zuvor nähen Sie oben am Kragen die Spitze fest, sie riß mir ab.“
Elise ging mit einem „Sehr wohl, gnädige Frau.“ Sie kannte das schon. Wenn Frau Hildegard mit Fredy unzufrieden war und ein ernstes Wort mit ihm zu reden wünschte, wurde sie, die Bonne, jedesmal unter irgend einem Vorwand fortgeschickt.
Mutter und Kind waren allein.
Sie sagte zunächst kein Wort, aber ihre sprechenden Augen lagen mit einem traurigen Blick auf ihm und Fredy fühlte und verstand diesen Blick recht gut, trotzdem er that, als sei er völlig damit beschäftigt, seine Pflanzen und Steinchen aus dem Karren zu nehmen und in eine Ecke der Veranda zu legen. Als seine Mama noch immer stumm blieb, kam er langsam an sie heran, lehnte sich gegen sie und ließ den Kopf sinken.
„Hast Du mir nichts zu sagen, Fredy?“ fragte sie sanft.
Er faltete ernsthaft seine kleinen Hände über ihrem Knie.
„Das find’ ich so gemein von der Elise, daß sie mich auch immer bei Dir angiebt!“
„Elise ist dazu da, um auf Dich acht zu geben. Benimm Dich wie ein wohlerzogenes, gutes Kiud, dann hat sie nicht nötig, mir Dinge von Dir zu sagen, die mir weh thun!“
„Weh thun, Mamachen?“
„Ja, Fredy – im Herzen weh thun! Du weißt recht gut, wie das ist!“
„Aber ich will Dir ja gar nicht weh thun!“
„Wenn Du unartig und unfreundlich bist gegen Leute, die ich – von denen ich – die Deine Mama …. Du weißt, Du sollst gegen alle gut und artig sein!“
„Hast Du denn aber den so lieb?“
„Den? Was heißt das? Wen meinst Du?“
„Ach – aber – na – den Baron von Trutzberg!“
„Du sollst ihn anders nennen, er hat es Dir erlaubt, ihn Onkel zu heißen, und ich erlaube es Dir auch! Sprich mir einmal nach: Onkel Hans!“ Sie wurde flammendrot, als sie vor ihrem Kinde den geliebten Namen aussprach.
„Also – Fredy?“
„Der soll gar nicht mein Onkel sein! Onkel Hugo Haßler, das ist mein richtiger Onkel!“
„Warum hast Du Onkel Haßler lieb, Fredy?“
„Na, der spielt doch mit mir und ist nett und – und schenkt mir schöne Sachen –“
„Ist nicht Baron Trutzberg – Onkel Hans meine ich – auch gut zu Dir und schenkt er Dir nicht schöne Sachen? Heute wieder die hübsche Eidechse –“
„Ach, die will ich gar nicht!“
„Aber wenn Onkel Hugo sie Dir geschenkt hätte, dann würdest Du sie wollen, nicht wahr?“
„Ja natürlich! Onkel Hugo, der kann auch immer so schön von meinem Papa erzählen.“
„Weil er ihn gut gekannt hat. Onkel Hans hat Deinen lieben Papa nie gesehen.“
„Ach – der braucht auch gar nicht von ihm zu erzählen!“
„Du bist ein eigensinniges Kind, Fredy, und hast Deine Mama kein bißchen lieb.“
„Doch! Viel mehr als ein bißchen. So lieb wie – wie – die ganze große Welt!“
„Davon merke ich aber nichts! – Wirst Du heute im Walde sehr gut und freundlich sein und von selbst sagen: lieber Onkel Hans?“
„Laß mich dann lieber zu Haus bei Elise!“
„Nein, Du kommst mit! Du bist ja sonst so unglücklich, wenn Deine Mama ohne Dich geht!“
Fredy sann ein Weilchen nach – sein Gesichtchen verklärte sich plötzlich – ihm war ein ausgleichender Einfall gekommen.
„Da war noch ein anderer Herr da, auch ganz fremd, ich hatt’ ihn noch nie gesehen – der kommt heute mit in den Wald und für mich bringt er einen kleinen Jungen mit. Lutz von Bredwitz heißt der; wenn ich zu dem nun Onkel sag’ – ich meine, zu dem anderen Herrn …. ist das nicht gerade so gut?“
„Gar nicht, Fredy! Was hilft mir ein fremder Herr, den ich nicht kenne? Du sollst Deiner Mama gehorsam sein, verstehst Du? Thust Du das nicht, so komme ich heute abend nicht an Dein Bett, Du bekommst keinen Gutenachtkuß und kannst allein beten, ohne Deine Mutter!“
Fredy sah seiner Mama mit großen, starren Augen ins Gesicht, dann zuckte es ihm um die Lippen und er brach in ein bitterliches Weinen aus. Es war die härteste Strafe, wenn seine Mutter ihn nicht zur Gutenacht küßte und nicht mit ihm betete. Er hing an ihr mit zärtlichster Innigkeit, sie war der Mittelpunkt all seiner kindlichen Ideen und Pläne. Selten, sehr selten kam es vor, daß sie ernstlich gegen ihn einschreiten mußte. Sie vermied dies auch, soviel sie irgend konnte, um das Kind nicht zum Weinen kommen zu lassen. Fredy weinte nicht wie andere Kinder – seine Thränen versiegten nicht rasch, sie strömten lange und unaufhaltsam, das stoßweise Schluchzen erschütterte den kleinen, zarten Körper, raubte ihm für später den Appetit und nahm ihm den Schlaf; selbst der Arzt, der gegen alle Verweichlichung der Kinder energisch ankämpfte, hatte Frau Hildegard geraten: „Lassen Sie es lieber nicht dahin kommen, daß der Junge viel weint. Dies krampfartige Schluchzen ist mir nicht so ganz unbedenklich, es kann leicht einmal in einen wirklichen Krampf ausarten und eine schlimme Wirkung auf das Nervensystem ausüben!“
Und jetzt hatte sie – sie selbst diesen Thränenerguß hervorgerufen, weil das Kind sich nicht ihrem Willen fügen, weil es zu dem Mann, den sie liebte, kein Herz fassen konnte!
Es ging ein schneidender Schmerz durch ihre Seele, während sie, gleichfalls die Augen voller Thränen, vor Fredy kniete, sein Gesicht, seine Hände, sein Haar mit ihren Küssen bedeckte und immer von neuem bat: „Nicht weinen, mein süßes Kind, mein Kleiner! Nur nicht mehr weinen – Mama wird nie mehr von Dir verlangen, was Du nicht kannst!“
(Schluß folgt.)
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0483.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)