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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0499.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Du!“ Trutzberg warf geringschätzig den Kopf auf. „Lehr’ Du mich Weiber kennen! Gerade eine scheinbare Vernachlässigung reizt sie. Soll sie durchaus merken, wieviel mir an der Partie gelegen ist? Ich werde mich hüten und der Narr sein und ihr zeigen, wie … was war denn das?“

Ein vielstimmiger, gellender Angstschrei drang zu ihnen herüber. Die übrigen waren weit voraus – man konnte nicht sehen, was geschehen war – an einer Stelle drängte sich alles zusammen – die hellen Kleider der Damen, die dunklen Männergestalten; es war hart am Rande des hier senkrecht abstürzenden Ufers, das unmittelbar zur See abfiel.

„Die Kinder! Die Kinder!“ Lutz von Bredwitz griff krampfhaft nach Trutzbergs Arm. „Um Gotteswillen, wenn es eins von den Kindern wäre! Laß uns hinlaufen – hier hinüber das ist der kürzeste Weg – verdammtes Gestrüpp – – –“

Er wollte den Weg abschneiden und quer hinüber – ein paar hoch aufgeschossene zähe Dornbüsche stachen ihm die Hände blutig und hielten ihn an den Kleidern fest.

„So warte doch ab, Mensch! Bleib!“ mahnte Trutzberg.

„Wart’, sag’ ich Dir. Es sind ja Leute genug da zum Helfen und Retten. Wenn jemand hier von oben direkt in die See abgestürzt ist, seh’ ich ohnehin nicht, wie man ihm so rasch beikommen soll!“

„Aber es könnte doch Fredy –“

„Fredy! Ja, wenn’s der wäre, da müßte man freilich –“

„Ich bin durch! Warte! Laß sehen! Wenn sie nur nicht alle durcheinander rennen und schreien möchten! Wer ist abgestürzt?“

Sie waren jetzt beide zur Stelle, aber es antwortete ihnen niemand, es beachtete sie keiner. Ein Stück des Holzgeländers, mit dem man die gefährliche Stelle zum Schutz umgeben, hing lose und gebrochen herunter, zwei Frauen lagen auf den Knien, die jungen Mädchen schluchzten, die Herren schrieen und gestikulierten, einer von ihnen hatte sich Platt an die Erde gelegt und versuchte, am Felsgestein hinunterzuklettern, – einige waren um eine zusammengesunkene Gestalt bemüht, die in Weinkrämpfen am Boden lag.

„Jungen! Lutz! Fredy!“ schrie Bredwitz mit Donnerstimme in das Getümmel hinein. – Es antwortete ihm niemand – von den Kindern war nichts zu sehen.

„Gott im Himmel!“ Die hellen Angsttropfen perlten ihm auf der Stirn. „Meiner Schwester Junge! Wenn ich nur wüßte, wer überhaupt verunglückt ist! Fredy! Lutz! Fredy!“

„Ach, Onkel – Onkel!“ Ein hellauf weinendes Kinderstimmchen ließ sich vernehmen. „Onkel Lutz –“

„Junge! Hierher! Zu mir! Wo hast Du Fredy?“

„Hier, Onkel, hier sind wir alle beide!“

„Alle beide!“ Er riß sie in seinen Armen in die Höhe, er küßte ihre Wangen, ihre Haare, ihre Kleider – die Augen standen ihm voll Wasser. „Jungen – Jungen, – daß ich euch wieder habe! Wer ist abgestürzt? Wer?“

„Gretchen Möller, Herrn Staatsanwalts Gretchen! Sie lief so gegen das Geländer – aus Versehen –“

„Man muß doch versuchen – Trutzberg – ich möchte versuchen – wenn Du so lange die Kinder –“

Der schöne Offizier zog den Freund mit einem Ruck beiseite.

„Du wirst doch der Narr nicht sein! Du siehst, der Vater versucht schon, hinunterzukommen – es wird ihm nicht gelingen. Hier hinunterzukommen ist unmöglich – vielleicht, daß von einer andern Stelle … wär’ es Fredy gewesen, hätte ich’s wagen müssen … aber so …“ Er zuckte die Achseln und vollendete nicht.

Sie waren inzwischen zum Ufer zurückgelaufen; darin hatte Trutzberg recht – an dieser Stelle war es unmöglich, an den Strand hinunterzukommen, das jäh abstürzende, nackte Felsgestein bot nirgends einen Halt. – Aber ein neuer vielstimmiger Schrei, halb Entsetzen, halb Freude, brach jetzt oben aus Aller Kehlen.

Man sah im dunkelblauen Wasser, schon um ein Stück weiter zurück, das helle Kinderkleid wie eine weiße Möve zum zweitenmal aus den Wellen emportauchen und zugleich rechts vom Ufer her zwischen Geröll, Felsbrocken und Gestrüpp einen eilig abwärts klimmenden Mann … und dieser Mann war bald, bald unten am Strande angelangt.

„Wer ist das?“ – „Einer von uns?“ – „Wie kommt er dahin?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Er war ein Stück zurückgeblieben und konnte gerade dort absteigen, wo er war!“ – „Er wird zu spät kommen!“ – „Nein, nein, sie wird gewiß noch ein drittes Mal auftauchen.“ – „Er fällt! Die losen Steine geben nach!“ – „Da ist er schon wieder in die Höhe!“ – „Wenn er nur schwimmen kann!“ – „Gott, o mein Gott, die arme Mutter!“ – „Es ist der fremde Herr, der heute angekommen ist!“ – „Jetzt ist er unten! Nun stürzt er sich ins Wasser!“

Kein Wort, kein Laut weiter! Selbst das Schluchzen der unglücklichen Mutter hatte für den Augenblick aufgehört. In atemloser Spannung sah alles nach unten – sah und wartete.

Der Schwimmer nahm große Stöße und die See war ruhig.

Aber ihn hinderten die schweren Kleider, die Stiefel, die er in der Eile nicht abzulegen gewagt hatte, und die ziemlich starke Uferströmuug hatte das Kind bereits ein Ende fortgetrieben. Es tauchte ein drittes Mal auf und wieder unter, ohne daß es dem Schwimmer möglich geworden war, es zu erreichen. Jetzt tauchte er … kam wieder zum Vorschein – tauchte von neuem … man sah eine Zeit lang nichts weiter, als die blaue, wogende Flut – –

Endlich! Ein dunkles Etwas kam über dem Wasser empor, ein Kopf – ein Arm – sehr, sehr langsam kam es näher. Und hinterher in dem Strudel – waren das Kleider? Nein ja – ja doch – ja, ganz gewiß!! –

Ein Weinen und Lachen brach los auf der Höhe, die Menschen fielen einander in die Arme, es war eine Aufregung ohnegleichen! Und nun eilten einige zurück und dann zum Strande hinunter – und andere ins nächste Dorf nach einem Wagen, nach Decken, nach stärkendem Wein – zurück – zurück alle – vor allen Dingen dem geretteten Kinde, dem Retter entgegen! –

Abseits von allen kniete eine blasse Frau, einen kleinen, zarten Knaben im Arm, und die Thränen rollten ihr unaufhaltsam aus den Augen, während sie ihre Hände über den Kinderhänden gefaltet hielt und beten wollte. Als alle schon gingen, erhob sie sich als die letzte – sie hatte es gesehen, daß der Mann unten wankend und taumelnd, das Kind in den Armen, das Ufer betreten hatte – nun konnte sie gehen, ihm entgegen.

„Gnädigste Frau sind so tief erschüttert – es war in der That ein überaus aufregendes Schauspiel! Darf ich der gnädigen Frau meinen Arm anbieten?“

„Ich danke, Herr von Trutzberg, ich fühle mich vollkommen stark genug – komm, Fredy, mein Kind!“

„Gnädigste Frau können stolz sein auf die That Ihres Freundes!“

„In der That – das bin ich!“

„Es traf sich freilich günstig, daß er dort besser zur Stelle war. Wir – von unserem Standpunkt aus – es versteht sich ja von selbst, daß jeder von uns das Gleiche gethan hätte, wenn …“

– – „Ja,“ unterbrach Hildegard Bingen die stockende Rede des Offiziers und sah ihm mit einem festen Blick in die Augen, „wenn es Fredy gewesen wäre, hätten Sie es doch wagen müssen!“

Sie wandte ihm den Rücken und zog ihren Knaben an der Hand mit sich fort, so rasch sie nur konnte. –

Sie waren schon alle, alle unten am Ufer um ihn versammelt, als sie mit Fredy dazukam. Das bewußtlose Kind war in Tücher gewickelt und lag im Arm seiner Mutter – ihm, seinem Retter, hatte man einen Mantel über die triefenden Kleider geworfen, das Haar klebte ihm um die Stirn, er war sehr bleich, aber er lächelte dem Vater des kleinen Mädchens, der in wortloser Rührung seine Hände gefaßt hielt, freundlich zu.

Als er Frau Hildegard kommen sah, that er rasch ein paar Schritte, wie um ihr zu zeigen, daß er sich vollständig wohl fühle – – und wieder traten die übrigen zurück und redeten lebhaft miteinander, um die beiden allein zu lassen.

Sie nickte ihm wortlos lächelnd zu und die Thränen standen ihr in den Augen, als sie seine beiden Hände in die ihren nahm.

„Lieber, lieber Onkel Hugo!“ sagte Fredy zärtlich.

Da neigte sie sich über den Knaben und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Froh erstaunt, als habe er nicht recht gehört, sah er zu ihr empor; sie flüsterte noch einmal.

„Lieber, lieber Papa!“ sagte Fredy leise und breitete die Arme aus.

Der Mann sah verwirrt um sich, als träume er.

„Hildegard –“ begann er endlich stammelnd.

Ihre tiefen Augen lächelten ihn an.

„Es ist nichts mehr, was mich verwirrt und aufregt,“ sagte sie ernst. „Ich bin zur Erkenntnis gekommen! Wenn Sie uns haben wollen – mich und Fredy –“

Das Kind umfaßte beide zugleich mit seinen Armen.




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0499.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2022)
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