verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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nicht ein einziges Wölklein schwamm. Und nun hörten sie über die Wiesen her, aus der Gegend des Purtschellerwaldes, ein klapperndes Rauschen, als wäre irgendwo ein riesiger Haufen Schindeln auseinandergefallen. Und im gleichen Augenblick tönten von der sonnigen Höhe herunter die schreienden Stimmchen der Kinder: „Da schau! Der Wald! O jegerl! Der Wald lauft davon!“
Mathes kletterte über den Verhau hinauf, Michel machte humpelnd einen Umweg, um die Böschung zu ersteigen, und Vroni kam aus dem Hof gerannt, während Mutter Katherl, die Milch verschüttend, ihrem Manne nachlief und im ersten Schreck das Gesicht bekreuzte. Sie spähten nach dem Gehölz hinüber, und während ein zweiter Windstoß ihnen das Haar und die Kleider zauste, sahen sie, daß ein großes Stück des Waldes in gleitender Bewegung war. Die grünen Wipfel schwankten durcheinander, als wären all die hundert Bäume betrunken. Aber die Ferne ließ diesen Vorgang klein und beinahe harmlos erscheinen. Und plötzlich war die grüne, laufende Waldscholle verschwunden, und an ihrer Stelle dehnte sich ein brauner Fleck – als hätte eine unsichtbare Riesenfaust dieses Stück Wald wie ein Spielzeug in eine braune Holzschachtel eingestrichen und den Deckel zugeklappt.
Wieder tönte jenes prasselnde Rauschen und endete in einem dumpfen, nachdröhnenden Schlag, wie er beim Sturz einer schweren Lawine zu hören ist. Dann war Stille.
Die vier Menschen standen mit erblaßten Gesichtern. Ihre ersten Blicke galten dem Haus und zugleich den Kindern – aber das kleine Haus lag ruhig in der Sonne, und die beiden Kinder standen sorglos auf der Wiese dort oben und schwatzten mit ihren hellen, dünnen Stimmchen.
Michel sprach das erste Wort: „Den Wald hat er schreien lassen, die unschuldigen Kinder hat er g’warnt … und da soll mir noch einer sagen, daß er auf seine Leut’ net Obacht giebt, der da droben!“ Er faßte die Hand seines zitternden Weibes und streichelte sie. „Thu Dich net sorgen, Mutterl! Der da droben hilft uns schon! … Komm, gehn wir wieder an d’ Arbeit!“ Hand in Hand stiegen die beiden Alten über die Böschung hinunter.
Mathes stand noch immer auf dem gleichen Fleck und starrte gegen den Wald hinüber. Dann atmete er tief auf. „Vroni!“ sagte er und deutete mit dem Rutenmesser, das er in der Hand hielt, „da is ein schöner Brocken Purtschellergut ins Wasser ’nunterg’rutscht! … Das druckt ihr wieder ein’ Kummer auf d’ Seel!“
Vroni nickte. „Ja, Mathes! Sie erbarmt mich! … Komm!“
Wortlos kehrten sie in den Hof zurück. Hier nahm der Simmerauer gerade ein Bündel Ruten auf die Schulter, während Mutter Katherl das Milchglas suchte – sie wußte nicht mehr, wo sie es im Schreck hingestellt hatte.
Niemand sprach. Sie alle waren von banger Sorge bedrückt, doch keines wagte von ihr zu reden. Kaum daß sie manchmal mit einem scheu verstohlenen Blick die Mauern des Hauses streiften. Denn seit Wochen war es immer so gewesen: wenn irgendwo auf dem Hang des laufenden Berges ein großer „Brocken“ in Bewegung geraten war, dann hatten sie es auch in der Simmerau zu spüren bekommen. Daran dachten sie alle und deshalb verloren sie den Kopf nicht, als es kam. Im Innern der Erde ein matter, plumpsender Hall – dann rann ein Zittern durch den Grund, auf dem sie standen.
„Mutter!“ stammelte der Simmerauer, umklammerte den Arm seines Weibes und schrie im gleichen Atemzug: „Jesus Maria! Die Kuh is unter Dach!“
Vroni und Mathes warfen die Werkzeuge weg und rannten zur Stallthür.
„Bleib draußen!“ keuchte Mathes, stieß die Schwester mit der Faust von der Thüre zurück und sprang in den matt erhellten Raum. Brüllend zerrte die Kuh an der Kette, und so konnte Mathes die Ringe nicht lösen. Von der niederen Decke fiel ihm Mörtel auf den Kopf, während er mit Anspannung aller Kraft den eisernen Bolzen, an dem die Kette hing, aus dem Futterbarren riß. Schnaubend, mit gestrecktem Schweif und die klirrende Kette schleifend, galoppierte das befreite Tier zum Stall hinaus, rannte gegen den Brunnen an, daß der Schwengel brach, und tollte in bockenden Sprüngen über die Wiese.
Mathes taumelte, als er über die Schwelle ins Freie sprang – denn wieder zitterte der Boden. Krachend zersplitterte ein Riegel des den Grund durchziehenden Balkenrostes, und während sich die beiden Stümpfe aus dem Boden hoben, kam die ganze Erde rings um das Haus her in träge Bewegung. Ein paar schwere Steine rollten vom Schindeldach der Scheune herunter, und gackernd flogen überall die Hühner auf.
„Kinder! Da her! Zu mir her!“ kreischte Michel mit bleichen Lippen. Als Mathes und Vroni bei ihm standen, wurde er ruhiger und in diesem Augenblick des Schweigens konnte man hören, daß die Kleinen auf der Wiese droben lustig sangen.
Mutter Katherl preßte die verschlungenen Hände an den Mund.
„Jesus Maria! Jesus Maria!“
„Macht nix! Na, Mutterl, macht nix!“ stammelte der Simmerauer. „Es is ja net ’s erste Mal! Gleich wird’s wieder aus sein! Nur net verzagen! Und ’naufschreien halt … ’naufschreien, daß er uns hören muß!“ Er faltete die Hände, hob sie über den Kopf empor und schrie: „Allgütiger Du im Himmel droben! Thu net auslassen, sag’ ich … nur jetzt net auslassen um Gott’swillen …“ Zähren erstickten die Stimme des Greises.
Ein zweiter Balken des Rostes sprang und bäumte sich knirschend, aus dem Garten scholl ein schwerer, dumpfer Klatsch, Schlamm und Wasser spritzte in dicken Strahlen von der Böschung über den Hofraum – dann war alles wieder ruhig, nur ein paar losgewordene Schindeln glitten noch mit leisem Rascheln über das Scheunendach herunter.
„Allweil steht’s noch, unser Häusl. Er hat schon wieder g’holfen, ja! Auf den is halt Verlaß!“ sagte Michel mit erloschener Stimme und wischte sich den Schlamm ab, der ihm ins Gesicht gespritzt war. „Wenn mit’ drin ein Loch is, freilich, da muß was ’nunterfallen … das kann er selber net anders machen! Aber oben halt er fest! Na, da laßt er net aus!“
Während Vroni die Mutter, der vor Aufregung, Schreck und Sorge völlig übel war, zu einem Holzblock führte, wollte Mathes in den Garten eilen, um bei der Böschung nachzusehen. Aber Michel hielt ihn am Aermel fest. „Z’erst ein Vergeltsgott sagen, Mathes! Er hat’s verdient um uns!“ Mit lauten Stimmen sprachen sie ein Vaterunser und den Glauben an Gott.
„So! Und jetzt speggalieren wir halt, wie’s ausschaut! Viel, mein’ ich, is net passiert! Und Du, Vronerl, sei so gut, lauf ’nauf und schau, was die klein’ Hascherln machen!“
„Die singen ja, Vater!“ sagte Vroni, und man merkte es an ihrer Stimme, daß ihr das Herz bis an den Hals heraufschlug. „Hörst es net?“
Der Simmerauer lauschte; und obwohl sein Gesicht so weiß wie Kalk und seine Augen voll Wasser waren, glitt ihm doch ein Lächeln über den farblosen Mund. „Da schau einer an! Die singen! Ja! Die singen! … Gott sei Dank! Die haben wieder gar nix g’merkt!“
Während Michel mit Vroni und Mathes unter langsamen Worten im Hof umherging, um den Schaden zu besehen, den der Erdrutsch angerichtet hatte, las Mutter Katherl die Scherben des Milchkruges auf, den sie im Schreck hatte fallen lassen.
„Jetzt is der auch hin! Der schöne Krug!“ seufzte sie, und ein paar Zähren tropften ihr in die Schürze, in welche sie die Scherben einsammelte, als wäre noch Wert an diesen Trümmern.
Das erregte Gackern der Hühner begann allmählich zu verstummen, und über dem Rande der Böschung erschien die Kuh mit der baumelnden Kette. Sie brummte ihren tiefsten Ton, sah mit den Glotzaugen verwundert über Haus und Garten nieder und ließ in wiedergefundener Seelenruhe die zottige Schweifquaste pendeln.
Im Hofe fand der Simmerauer den halben Balkenrost aus den Fugen getrieben und verschoben; neben den zwei zersplitterten Balken waren ein paar andere krumm gebogen und fast geknickt.
„Macht nix! Wenn wir fleißig dazuschauen, haben wir den Schaden in zwei, drei Tag’ wieder gut g’macht. Gelt, Kinder, helfen wir halt wieder ordentlich z’samm’!“
„Ja, Vater!“ sagte Vroni, während Mathes schweigend nickte.
Nun gingen sie hinter das Haus und zur Böschung. Da sah es noch schlimmer aus. Ein Wust von Erde und Felsbrocken war über den Garten niedergebrochen und hatte den schweren Verhau zu Boden gedrückt wie ein Kartenblatt.
„Müssen wir halt ein’ andern machen! Zeit haben wir ja! Acht Tag’, mein’ ich, giebt er jetzt doch wieder ein’ Fried’, der Berg!“ Als Michel die Bruchstelle näher untersuchte, gewahrte er neben dem Haufen des niedergebrochenen Schuttes einen schmalen, frischen Erdstreif, der sich wie ein Band am Fuße der unversehrt gebliebenen Böschung entlang zog. Diese Entdeckung brachte den Alten nun doch aus seiner vertrauenden Ruhe und ging ihm ans Herz. Mit den gespreizten Fingern der zitternden Hand maß er
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0503.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)