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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0702.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

hab’ ich noch Zeit bis zum Schnepfenstrich … und da möcht’ ich mit dem lieben Schneckerl ein bißl hänseln, ’s Kind wird ja sonst völlig fremd zu mir! Mach’ weiter und hol’ mir den Prinzen ’rüber!“

Die Magd wollte noch eine Einwendung erheben; aber ein grobes Wort machte ihr flinke Füße. – Mit rotem Schimmer lag die Abendsonne auf der Straße und über den kahlen Gärten, als die Magd aus dem Haus des Nachbars trat und auf ihren Armen das kleine schwatzende Bürschlein zu seinem Vater heim trug. Während sie über die Stufen zur Hausthür hinaufstieg, flog’s mit sachtem Gesurr über die blätterlosen Reben des Weinspaliers.

„Meckerling!“ Der Kleine streckte die Händchen. „Meckerling haben möcht’ ich!“

„Aber geh, Tonerl,“ sagte lachend die Magd, „jetzt fliegt doch noch kein Schmetterling umeinander! Da mußt schon noch ein paar Wochen warten!“

Droben im ersten Stock klirrte eine Scheibe und Purtscheller streckte das vergnügte Gesicht zum Fenster heraus. „Bürscherl! Da schau her, wer da is! Dein Vaterl!“

„Meckerling haben möcht’ ich!“ wiederholte der Kleine, während ihn die Magd in das Haus trug.

Purtschellers Gesicht verschwand; dann hörte man durch das offene Fenster den zärtlichen Gruß, mit dem er seinen „Prinzen“ empfing, den lustigen Unsinn, den er trieb, und das Jauchzen des Kindes, das am Spiel mit dem Vater eine seltene Freude zu finden schien.

Es wurde lebendig auf der Straße; die Bauern kehrten von den Feldern heim, und nach einer Weile kam auch Karlin’ mit ihren Leuten. Die Arbeit, welche sie seit dem Morgen geleistet hatten, war von Erfolg gewesen. Freilich hätten die ausgeworfenen Gräben und die in Eile aus Felsbrocken aufgebauten Dämme die Saatfelder auf die Dauer nicht vor Vermurung geschützt, wenn nicht im Laufe des Nachmittags das aus dem Innern des laufenden Berges hervorströmende Wasser unerwartet gesunken wäre, so daß es gegen Abend fast ganz versiegte. Die Leute erklärten sich die Ursache dieser plötzlichen Wendung auf verschiedene Weise; die einen meinten, beim Niedergang der Sonne und in den kühlen Nachmittagsstunden wäre droben auf den Almen der Schnee aus dem Schmelzen gekommen, und so hätte der Zufluß an Wasser sich vermindert – und die anderen sagten: entweder hätten die Bäche in den Höhlen des Berges einen anderen Weg genommen, oder ein schwerer Erdbruch hätte dem unterirdischen Wasser einen Riegel vorgeschoben.

Schweigend hatte Karlin’ die Reden der Leute mit angehört, und manchmal bei der rastlosen, erschöpfenden Arbeit war ihr stiller Sorgenblick über die Gehänge emporgeglitten gegen die Simmerau. Welch’ bange Stunden mußten die dort oben zu überstehen haben! Welch’ einen harten Kampf mochten sie führen gegen die dunkel drohende Gefahr!

Als man für die Felder nicht mehr zu fürchten hatte und den Heimweg antreten tonnte, war Karlin’ von der schweren neunstündigen Arbeit und von allem, was insgeheim an ihrem Herzen nagte, so müd’ und gebrochen, daß sie sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochte. Die Steine, welche sie zum Bau des Dammes herbeigetragen, hatten ihr die Hände zerschunden, ihre Kleider waren durchnäßt, und in Klumpen hing der Schlamm und die Ackererde an den Säumen ihres Rockes. Wortlos ging sie inmitten der schwatzenden Leute; verloren irrte ihr schwermutsvoller Blick über den Märzenstaub, die feuchten Härchen klebten ihr an Stirn und Schläfen, ihre Lippen zitterten, und tiefes Leiden redete aus dem blassen, verhärmten Gesichte, das in der vergangenen Nacht und an diesem Tag um Jahre gealtert schien.

Vor dem Thor des Purtschellerhofes blieb sie stehen und nickte den Dienstboten mit müdem Lächeln zu. „Vergeltsgott, meine guten Leut’! Und geht’s mir ’nein derweil ins Haus … wenn ich heimkomm’, richt’ ich’s Essen gleich und stell’ euch ’s Bier auf! Bloß mein Kindl möcht’ ich noch holen!“

„Ja, Frau, ja,“ sagte der Altknecht, „es pressiert net so!“

Und die anderen grüßten freundlich: „B’hüt Gott derweil, Frau Purtschellerin!“

Während die Leute in den Hof traten, ging Karlin’ zum Nachbar hinüber. Als sie hörte, daß die Magd das kleine Bürschlein schon vor einer halben Stunde heimgeholt hätte, eilte sie in Unruh’ nach Hause – sie kannte ja die Art von Spielen, welche Purtscheller alle heiligen Zeiten einmal mit seinem Kind’ zu treiben pflegte – und noch immer war der Kleine dabei gar übel weggekommen, im besten Fall mit Thränen.

Während Karlin’ über die Stufen des Gartens emporstieg, hörte sie aus dem offenen Fenster das flehende Stimmlein ihres Kindes: „Vaterl, bitti, bitti, noch ein bissi Rosserl machen!“

„Na, mein Bürscherl,“ klang die Stimme Purtschellers, „für heut’ is’ g’nug! Jetzt muß ich fort auf d’ Jagd!“

„Bitti, Vaterl, bitti gar schön!“

„Morgen, mein Schnaberl, morgen wieder! Und da thun wir Haserl und Jaager spielen miteinander, gelt! Aber jetzt muß ich fort!“

„Vaterl, bitti, bitti, Haserl spielen!“

„No also, in Gottsnamen, ein bisserl noch! Aber g’schwind, mein Haserl! G’schwind thu Dich verstecken im Krautacker! Der Jaager kommt schon mit der Büx …“

„Haserl guguk!“ tönte der lustige Ruf des Kindes.

Von banger Sorge befallen stürzte Karlin’ ins Haus und über die Treppe hinauf. Doch ehe sie die Stubenthüre noch erreichen konnte, dröhnte der Hall eines Schusses durch das Haus.

Gelähmt vom Schreck, hörte sie einen erstickten Schrei ihres Mannes und das Fallen von Mörtelbrocken. Als sie nach einer Sekunde, welche ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, die Bewegung wiederfand und in verzweifelter Angst die Thüre aufriß, sah sie ihren Mann mit verzerrtem aschfarbenen Gesicht an die Mauer gelehnt, das rauchende Gewehr in der Hand. Vom ziehenden Pulverdampf verschleiert, stand das kleine Bürschlein neben dem Ofen; es zitterte vom Schreck, den der Knall und das Feuer des Schusses ihm eingejagt hatten, und blickte mit großen, scheuen Augen an seinem Kleidchen hinunter, aus dessen Falten die roten Tropfen sickerten.

„Mammi, schau,“ begann das Kind verschüchtert zu plaudern, als es die Mutter gewahrte, „Vaterl Hasi tot ’schossen!“ Es wollte die Aermchen strecken aber da fiel es vornüber zu Boden und regte sich nicht mehr.

Mit röchelndem Schrei, wie eine Wahnsinnige, stürzte Karlin’ auf ihren Mann zu und klammerte ihm die Hände um den Hals, als könnte sie mit Gewalt das schon geschehene Unglück noch verhüten.

Er wehrte sich nicht, sondern lallte nur und ließ die Flinte aus den schlaffen Händen gleiten. Das Gepolter, das sie machte, weckte Karlin’ aus dem Irrsinn, der sie befallen hatte.

„Mein Kindl! Mein Kindl! Mein Alles, was ich noch hab’! Mein Kindl!“ schrie sie mit herzzerreißenden Lauten und warf sich schluchzend auf die Dielen nieder. Sie hob das blutende Körperchen an ihre Brust, raffte sich taumelnd auf, schrie mit gellender Stimme um Hilfe und wollte das Kind zu seinem Bettlein tragen. Doch ehe sie die Schwelle der Schlafstube erreichte, erlosch ihre Kraft, und ohnmächtig sank sie zu Boden.

Die Dienstboten, die den Hall des Schusses und Karlin’s Hilfeschrei gehört hatten, stürzten in das Zimmer und schrieen erschrocken durcheinander. Die einen hoben Karlin’ und das Kind von den Dielen auf, die andern drängten sich mit entsetzten Fragen um Purtscheller.

Zitternd saß dieser auf der Wandbank, stierte die Leute mit glasigen Augen an und lallte in Thränen wie ein Kind: „Ich weiß net … aber ’s G’wehr is g’laden g’wesen … ich bin net schuld d’ran … ’s G’wehr is g’laden g’wesen …“

Ein anderes Wort war nicht aus ihm herauszubringen.

Der Altknecht rannte davon, um den Doktor zu holen. Der kam auch gleich; aber er konnte nichts mehr helfen – Tonerl hatte in schmerzlosem Tod die Augen für immer geschlossen.

Während der Doktor um das Kind beschäftigt war und die Mutter aus ihrer Ohnmacht wieder zur Besinnung brachte, kamen schon die Nachbarn gelaufen. Wohnstube und Schlafkammer füllten sich mit Menschen, und tröstend versuchten die Frauen auf Karlin’ einzureden. Sie hörte nicht. Thränenlos, wie versteinert, saß sie neben dem Bettlein ihres Kindes und wollte das starre, kalte Händchen nicht lassen.

Der Doktor strich ihr in wortlosem Erbarmen mit der Hand über den Scheitel. Dann wandte er sich ab und ging in die Wohnstube hinaus.

Die Leute schwiegen, als er kam, und zitternd sah ihm Purtscheller entgegen, erschöpft vom Weinen und das Gesicht von den heißen Thränen aufgedunsen.

„Herr Purtscheller,“ sagte der Doktor, „es ist meine Pflicht, ich muß den Unfall, dessen Opfer Ihr armes Kind geworden ist, zur Anzeige bringen!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0702.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2022)
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