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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0703.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Purtscheller sah, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Und da erhob er sich und zwang seine Stimme zu festem Klang. „Ich bitt’, Herr Doktor … machen S’ Ihnen kein’ Arbeit net! Wer ein Mann is, muß einstehen können für alles, was er thut! Wenn ich auch schuldlos bin … ich fahr’ selber in d’ Stadt ’nein und geh zum G’richt! Noch allweil bin ich der Purtscheller!“ Da stürzten ihm wieder die Thränen über die Wangen.

Der Doktor sah ihn an und sprach kein Wort; während er sich an den Tisch setzte, um den Totenschein auszufüllen, sagte Purtscheller zum Altknecht: „Spann’ mir den ,Lüftikus’ ein!“

„Aber ich bitt’ Ihnen um Gott’swillen, Herr …“

„Thu’, was ich sag’. Ich muß zum G’richt! Und mein Traber bringt mich am schnellsten auf den Weg, der mir jetzt noch übrig bleibt!“

Der Reihe nach ließ sich Purtscheller von allen Leuten die Hand drücken und wollte aus der Stube gehen: doch es zog ihn zur Kammer. Aber als man die Thür vor ihm öffnete, als er die blutigen Kissen sah und das wachsbleiche Gesichtchen seines Knaben, faßte ihn ein Schauder, und schluchzend bedeckte er mit zitternden Händen die Augen.

„Ich kann ihn nimmer anschauen … ich kann net … ich bring’s net fertig!“

Taumelnden Schrittes ging er zur Flurthür und tauchte – was er seit Jahren nicht mehr gethan hatte – die Finger in den Weihbrunnkessel. Schluchzend wankte er die Treppe hinunter und schluchzte noch immer, als ihm der Wagen vorgeführt wurde.

„Ich bitt’, Herr, lassen S’ lieber mich fahren!“ sagte der Knecht. „Sie haben ja doch die Kraft nimmer, daß S’ den Gaul heut’ noch regieren können!“

Purtscheller schüttelte den Kopf und schwang sich auf den Gig. Hätte ihm Zäzil nicht den Hut gebracht, er wäre barhäuptig davongefahren.

Während er bei sinkender Dämmerung durch das Dorf hinauskutschierte, rollten ihm unaufhörlich die Thränen über die zuckenden Lippen; gedankenlos starrte er vor sich hin, ohne des Pferdes zu achten, welches bald, von der ersten Fahrt noch müde, das Traben aufgab und in gemächlichem Schritt der Straße folgte.

Immer grauer senkten sich die Schatten des Abends über Thal und Berge, obwohl im Westen ein roter Glanz noch leuchtete, in den sich die Konturen ferner Höhenzüge schwarz emporhoben. Die Unken riefen, in den kahlen Büschen pisperten die Meisen ihre letzten Töne, und gleichmäßig klang auf der harten Straße der Hufschlag des ruhig schreitenden Pferdes.

Als bei Purtscheller diese gedankenlose Dumpfheit allmählich schwand und die Erschütterung des ersten Jammers sich löste, tauchte plötzlich das Bild seiner selbst und seines Lebens vor ihm auf, wie es wirklich war, und mit einer ihn entsetzenden Klarheit sah er die große, Glied an Glied gereihte Schuld, die er an sich selbst und an anderen verbrochen hatte. Aber diese Helle seiner Gedanken währte nicht lange – sie war über ihn gekommen wie ein Blitz und ging vorüber wie ein Wetterleuchten, hinter welchem die Sterne scheinen. Gleich war das Mitleid wieder da, das er mit sich selbst empfand, und die Sucht, seine Fehler zu beschönigen und die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Ja, er hatte durch Leichtsinn viel gesündigt – aber nicht er, sondern alles andere trug die Schuld! Weshalb waren seine Eltern so früh von ihm gegangen und hatten ihn unreif im Leben zurückgelassen, nicht gewöhnt an Arbeit, den Forderungen seines reichen Besitzes nicht gewachsen, wie ein schwankendes Rohr jedem wechselnden Winde und wie ein Kind jeder Anfechtung ausgesetzt! Und weshalb mußte er zu seinem Unstern gerade in diese Heirat hineintappen!

Wäre er an eine andere Frau geraten, die ihn zu behandeln, zu erziehen und zu lenken verstanden hätte, – alles, alles wäre anders gekommen! Und auch dieses letzte, grauenvolle Unglück, das seine schuldlosen Hände mit dem Blut des eigenen Kindes befleckte, wäre nicht geschehen! Nein! Nein! Sicher nicht! Jetzt sah er es deutlich: nicht er, sondern Karlin’ war die wirklich Schuldige!

„Die ganzen Jahr’ her hat s’ mir allweil die Patronen aus die G’wehr’ und aus der Joppen g’nommen! Heut’ zum erstenmal vergißt sie’s! Hätt’ d’ Frau net ihr’ Pflicht versäumt, so hätt’ das Unglück net g’schehen können!“

Die Thränen liefen ihm übers Gesicht, während ihn sein hilfloser Kummer und die Angst vor der Selbsterkenntnis in heißen Zorn gegen diese pflichtvergessene Frau hineinredeten. Den Zorn, der ihn quälte, mußte er entladen und da er plötzlich auch den gemächlichen Paß des Rappen gewahrte, griff er wütend zur Peitsche.

„Wart’, Dich will ich’s Laufen lehren, wenn’s so was gilt!“

Und mit klatschendem Schlag sauste die Peitschenschnur auf die Weiche des Pferdes nieder.

Schnaubend bäumte sich das mißhandelte Tier, und noch scheuend vor einem Meilenstein, der sich mit grellem Weiß aus dem Dunkel des Abends hob, fiel es in so rasenden Galopp, daß Purtscheller, den der Schreck von allem Rausch seines Zornes und seiner Schmerzen ernüchterte, diese wilde Jagd des Pferdes nicht mehr zu hemmen vermochte.

Wie ein tanzendes Spielzeug flog der leichte Gig von einer Seite der Straße zur andern, schlug hier gegen einen Felsen, dort gegen eine Balkenbrüstung und verschwand in den Wolken des aufgewirbelten Staubes …

Zu dem in dunkler Ferne verhallenden Hufschlag des Pferdes gesellten sich die wimmernden Töne einer kleinen Kirchenglocke.

Klagend schollen die in Pausen absetzenden Klänge durch das abendstille Thal.

Die Leute, welche noch nicht von dem Unglück wußten, das im Purtschellerhof geschehen war, traten erschrocken aus ihren Häusern, als sie die Glocke hörten. In Sorge lief jeder zum Nachbar und fragte: „Wem wird denn ’s Glöckl ’zogen? Wo war denn ein Kindl krank?“

Auch über die Gehänge der Berge drang noch ein verschwommener Ruf der Glocke empor und sie hörten ihn in den einsam gelegenen Höfen, hörten ihn droben in der Simmerau, wo die vier Menschen im Fackelschein bei der Arbeit standen, erschöpft, die Gesichter von Schweiß überronnen.

Seit Stunden hatten sie nur wenige Worte gesprochen, nur was die Arbeit erforderte. Als sie nun die Glocke vernahmen, blickten sie alle lauschend auf.

„Hörst, Mutter!“ sagte Michel. „Sie läuten ’s Zügenglöckl!“

„’s kleine Glöckl! Ein Kindl muß g’storben sein!“

„So ein arms Hascherl! Der liebe Gott soll’s aufnehmen in sein’ ewigen Himmelsfrieden! Beten wir ein Vaterunser dafür!“

Ohne die Arbeit auszusetzen, sprachen sie mit lauten Stimmen das Gebet. Als Mathes sich bekreuzigt hatte, griff er tastend nach einem Baum, und so stand er eine Weile, als hätte ihn ein Schwindel befallen.

„Is Dir net gut, Mathes?“ fragte ihn die Schwester in Sorge.

„Net gut? Ah na! Aber ich weiß net, was ich hab’ … so viel bang sein thut’s mir um ’s Linerl!“

Schweigend strich ihm Vroni mit der Hand über die Wange.

Und drüben, wo die beiden Alten standen, sagte Michel zu Mutter Katherl: „Müd bin ich, Mutterl, arg müd! Aber völlig aufschnaufen thu’ ich, weil ich weiß, daß unsere Kinderln ein sichers Platzl haben! Und die G’vatterin drunten is doch gut mit ihnen, gelt?“

„Ja, Michel, da kannst Dich verlassen!“

„Gott sei Dank! Denn weißt, um kein’ Preis mehr hätt’ ich die Kinderln heut’ in der Nacht noch im Häusl schlafen lassen.“

Bang seufzend blickte der Alte an den vom zuckenden Fackelschein erhellten Mauern hinauf, von denen der weiß getünchte Mörtel in großen Brocken niedergefallen war.

Dann schwiegen sie wieder, und man hörte beim Knistern der Fackelflammen nur noch den Hall der Beilschläge, das Knirschen der Säge, das Krachen der Ruten, die beim Flechten entzwei brachen, und den schweren Atem der Schaffenden.

Der müden Erschöpfung, mit der sie so bei der Arbeit standen, war es anzusehen, daß sie harte Stunden hinter sich hatten. –

Es hatte aber auch der laufende Berg im Herbste während vieler Wochen nicht solche Unruh’ gezeigt wie heute an diesem einzigen Tag. In der Nacht schon war es angegangen, dieses Zittern des Grundes, dieses Rieseln der Erde. Viermal seit dem Morgen hatte es dumpf gedröhnt im Innern des Berges, und jeder Einsturz, der in einer der unterirdischen Wasserhöhlen erfolgte, hatte sich an der Oberfläche des Gehänges merklich gemacht. Rings um die Simmerau waren alle Halden verwandelt in ihrer Form, zu wulstigen Buckeln aufgeschoben oder von Klüften durchrissen. Drüben, wo sonst die grünen Masten des Purtschellerwaldes in dicht gedrängter Schar den Berghang bedeckt hatten, waren nur einige hundert Wipfel noch zu sehen. War seit dem vergangenen Tag der Boden versunken, der die von der Axt des Händlers verschonten Bestände getragen hatte? Oder war das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0703.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)
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