verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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Kaltern. (Zu dem Bilde S. 693.) Wenn man in dem von Gebirgen rings umgebenen Bozen den Blick nach der blauen Mendel richtet und ermißt, wie diese luftige Höhe zu erreichen wäre, so fällt eine langgestreckte Bergmasse in die Augen, die wie ein Fußschemel zur Erleichterung des Aufstiegs davor hingelagert scheint. Das ist der „Mittelberg“, das „Ueberetsch“, ein altberühmter Strich Landes, reben- und burgenreich wie nur eines der gepriesenen Schaustücke an den Ufern des Rheins. Nach der Etsch schroff, zum Teil in senkrechten Felsen abfallend, mit Wald bekrönt, läßt der gewaltige Block vom Thal aus nicht ahnen, daß sich in seinem Sattel ein üppiges Gefilde ausbreitet, eine uralte Stätte der Weinkultur, mit stadtähnlichen Flecken, zahllosen Schlössern, Burgen, Kirchen und Kapellen, ja sogar mit fischreichen Seen.
Der Tourist, der heute über den Brenner fährt und im wunderschönen Bozen Halt macht, läßt sich die jetzt so bequeme Mendelfahrt nicht entgehen. Diese führt ihn aufs Ueberetsch und dann hoch über dasselbe, so daß er zuletzt den niedrigen Bergrücken vom Thalgrund der Etsch nicht mehr unterscheidet. Die stolze Feste Sigmundskron und das prächtige Eppan, ein Dorf, dem kein zweites gleicht, wo wie in Venedig jedes Haus ein Palazzo und jeder Bauernhof ein alter Edelsitz ist – sind die weithin sichtbaren Wahrzeichen des Landstrichs. Der Hauptort des Mittelbergs aber, das weinberühmte Kaltern, liegt jetzt abseits vom allgemeinen Heerweg des Touristenvolks; denn von Eppan steigt der moderne Kunstbau, der in großartigen Serpentinen zur Mendel führt, am Gondberg hinan und läßt die alte Straße links liegen, die nach Kaltern und an den Kalterer See und weiter über das nicht minder weinberühmte Tramin ins Etschthal hinunterführt. Und doch ist Kaltern des Besuches wert; ein blühender Marktflecken mit etwa 4000 Einwohnern, besitzt es eine schöne Pfarrkirche mit Fresken, ein Franziskanerkloster und als Mittelpunkt des tiroler Weinhandels großartige Kellereien. Der ziemlich tiefer gelegene Kalterer See ist etwa 1 km breit und 2 km lang und ausgezeichnet durch seinen Fischreichtum.
Wir denken, unser Künstler hat den reizenden Fleck Erde, auf welchem Kaltern liegt, verlockend genug geschildert, so daß wir uns begnügen können, zu bezeugen, daß er nicht geschmeichelt hat. Und über diesem herrlichen Lande ruht noch der Zauber der Sage und Geschichte. Es ist kaum eine Frage, daß hier Drusus 14 Jahre vor Christus gekämpft hat und daß die das Gefilde beherrschende Burg Hoheneppan, das Appianum des langobardischen Geschichtschreibers Paulus Diaconus, schon in altersgrauen Zeiten, in welche nördlich der Alpen keine greifbare Erinnerung zurückreicht, ein mächtiger Fürstensitz gewesen ist. Ludwig Steub, der anmutige und begeisterte Schilderer alträtischer Herrlichkeit, den die deutsche Leserwelt leider viel zu wenig kennt, hat mit nie versiegender ernster und scherzhafter Beredsamkeit darauf aufmerksam gemacht, welch uralter Kultur das deutsche Etschland sich rühmen darf. Auch der archäologisch gebildete Wanderer steht da vor so manchem grauen Turme, bei welchem er nicht um das Jahrhundert, sondern um das Jahrtausend verlegen ist, in welches er ihn verlegen soll. Elegisch und komisch zugleich klingt die Klage Steubs, in die er vor solch einem ehrwürdigen, in der Prosa unserer Tage in einen Stall verwandelten Bauwerk ausbricht: „Wo einst rätische Königstöchter sangen, da brüllen jetzt die Vintschger Kühe.“ –
Auf einen Umstand muß man freilich den Vergnügungsreisenden,
welchen Lust nach Kaltern und dem Ueberetsch anwandelt, aufmerksam
machen: eine Sommerfrische ist es nicht. Kaltern liegt nur etwa
250 m über dem Meere und seine Südseite, die sich zum Kalterer See
in die Etschebene hinuntersenkt, ist wahrscheinlich der heißeste Fleck
Erde auf deutschem Sprachgebiet. Darum muß man es in den späteren
Herbsttagen besuchen, wenn die Sonne nicht mehr so viel Stunden
zum Hineinscheinen hat und der Winzer sich anschickt, die edelreif
gewordene Frucht der Rebe einzuheimsen. Der „Kalterer Seewein“ ist
fast in der ganzen Welt berühmt und er teilt mit dem „Rauenthaler“,
dem „Rüdesheimer“ und ähnlichen Namen das Schicksal, daß seine
Begegnung auf der Weinkarte dem richtigen Weinkenner noch viel
erfreulicher wäre, wenn er nicht wüßte, daß nur ein bescheidener Bruchteil
von dem, was unter dieser Bezeichnung verzapft wird, an Ort und Stelle
gewachsen sein kann. Alfred Freihofer.
Vor der Schlacht bei Rothenthurm. (Zu dem Bilde S. 701.)
Nachdem die Waadt, die seit zweiundeinemhalben Jahrhundert ein
bernerisches Unterland gewesen war, zur Befreiung vom verhaßten Joch der
Berner im Jahr 1798 die Franzosen in die Schweiz gerufen hatte und
diese die Berner in der Schlacht bei Neuenegg besiegt hatten, arbeitete
das französische Direktorium unter der Mithilfe von schweizerischen
Abgesandten eine neue Verfassung für die Schweiz aus. Dieselbe hob die
bisherigen Grenzen und Unterschiede der eidgenössischen Stände auf und
verschmolz sie zu einem Einheitsstaat. Unter dem Druck der politischen
Lage beugten sich fast sämtliche Stände und nahmen die neue Verfassung
an; nur Nidwalden und Schwyz wollten sich nicht fügen und beharrten
bei ihrer alten von den Vätern ererbten Gesetzgebung. Da erhielt General
Schauenburg den Auftrag, die Verfassung den beiden Ländern mit Waffengewalt
aufzuzwingen. In wenigen Tagen war Nidwalden ein Trümmerhaufen,
seine waffenfähige Mannschaft erschlagen, gegen Schwyz kam es
am heftigsten bei Rothenthurm zum Kampf, wo eine „Letzimauer“, d. h.
Wehrmauer, deren Thor jetzt noch erhalten ist, jahrhundertelang das Thal
von Einsiedeln gegen die Zugänge aus der Mittelschweiz abschloß. Alles,
was Waffen tragen konnte, sammelte sich hierher, ein Milizheer von
1200 Mann und etwa 1500 Landstürmler, Männer, Frauen, Knaben und
Mädchen, die mit den Schlag- und Stichwaffen der alten Freiheitskriege
ausgerüstet waren. Als die Franzosen in Sicht kamen, warf sich das
Volk zum Gebet nieder, dann gab Alois Reding, der feurige Führer, mit
den Worten: „Wir fliehen nicht, wir sterben“ das Zeichen zum Angriff.
Im Andenken an den ersten schweizerischen Freiheitssieg, den die Väter
am nahen Morgarten erstritten hatten, stürmte das Volk aufjauchzend
und mit fliegenden Fahnen durch den französischen Kugelregen gegen den
von der nördlichen Bergflanke niedersteigenden Feind. Die schwyzerischen
Scharfschützen zielten gut, doch schrecklicher wüteten Bayonettangriff,
Kolbenschlag und die Sensen der Frauen gegen das vorher nie besiegte
Heer Schauenburgs. 2700 Franzosen deckten die Abhänge, Schwyz hatte
nur 236 Tote. So lauten wenigstens die Berichte. Auf der Anhöhe
von St. Jost, im Anblick des alten Schlachtfeldes von Morgarten feierte
das Völklein den Sieg. Da kam die niederschmetternde Nachricht, daß
der Feind vom Zürichsee her ins Innere des Landes gedrungen sei.
Reding schloß mit Schauenburg einen ehrenvollen Frieden. Schwyz
nahm die Verfassung an, die Franzosen aber zogen sich, die Tapferkeit
des Völkchens ehrend, gleich über die Landesgrenze zurück. Jetzt geht
über das Schlachtfeld die schweizerische Südostbahn, die den Zürichsee mit
dem Rigi verbindet. H.
Ein letztes Wort. (Zu dem Bilde S. 705.) Ob bittere Notwendigkeit
diese kurzen Zeilen diktierte oder der eigene freie Wille des
Schreibers – sie haben eine tiefe Wunde gerissen, die, am Tage unter
Lächeln und Gesellschaftstreiben versteckt, nur in stiller Nacht bluten
darf. Kein fremder Blick dringt dann störend in das für behagliches
Ausruhen eingerichtete Gemach, wo die verwöhnte Schöne traurig und still in
ihrer Diwanecke lehnt, den oft gelesenen Brief in der Hand, mit den
großen schwermutsvollen Augen unverwandt vor sich hinstarrend, einen
tief schmerzlichen Ausdruck auf dem schön geschnittenen Gesicht. – Die
Malerin des anziehenden Bildes stellt mit Vorliebe solche reizvoll
melancholische Frauengestalten dar: sie vereinigen zarte Empfindung mit
vortrefflich realistischer Technik und haben auf den verschiedenen Ausstellungen
verdienten Erfolg gefunden. Bn.
Inhalt: Wendische Volkstrachten. Bild. S. 689. – Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (3. Fortsetzung). S. 690. – Die Wettsucht in England. Von Hugo Möder. S. 692. – Kaltern und der Kalterer See. Bild. S. 693. – Das Geburtshaus der Brüder Grimm. Von Louise Gies. S. 695. Mit Abbildung S. 696. – Deutsche und holländische Landeroberungen an der Nordsee. Von Dr. Eugen Träger. S. 696. Mit Abbildungen S. 696, 697 und 698. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (17. Fortsetzung). S. 699. – Vor der Schlacht bei Rothenthurm. Bild. S. 701. – Ein letztes Wort. Bild. S. 705. – Unser Totenkopfschmetterling. Von B. Theinert. S. 706. – Blätter und Blüten: Vom sächsischen Volkstrachtenfest in Dresden. Von G. Jrrgang. S. 707. (Zu dem Bilde S. 689.) – Kaltern. Von Alfred Freihofer. S. 708. (Zu dem Bilde S. 693.) – Vor der Schlacht bei Rothenthurm. S. 708. (Zu dem Bilde S. 701.) – Ein letztes Wort. S. 708. (Zu dem Bilde S. 705.)
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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0708.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)