verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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„Das fürchte ich nicht, ich kenne mein Kind. Komm jetzt ins Eßzimmer, trinke ein Schlückchen Thee und dann lege Dich nieder – morgen haben wir einen arbeitsvollen Tag, da kann man nicht zeitig genug zur Ruhe kommen.“
In dem Gefühl, sich zu lange bei ihrem väterlichen Freunde verplaudert zu haben, eilte Lisbeth hastigen Schrittes nach Hause. Sie fühlte einen heftigen Schrecken, als bei ihrem Eintritt in den Vorflur der Vater ihr entgegen kam und sie in sein im Parterregeschoß gelegenes Bureauzimmer führte. Dort erst, bei dem hellern Schein der Lampe, bemerkte sie, was ihr vorher entgangen, daß sein Gesicht ganz farblos war und große Erregung zeigte. Als er die Thür geschlossen und sich mit seiner Tochter allein sah, brach er gleich mit der Mitteilung hervor: „Ich erwartete Dich hier, um mich mit Dir über eine traurige Angelegenheit zu beraten – uns hat Schweres getroffen! Eben erhielt ich diesen Brief aus Berlin: Leo ist durchs Examen gefallen! Wie wird Mutter das tragen? Ob wir es ihr überhaupt mitteilen müssen?“
„Aber, Papa, wie könnte man es ihr vorenthalten?“ rief Lisbeth, die jede Aeußerung ihres Kummers um des Vaters willen unterdrückte, „wie wäre es auch möglich, ihr die Sache zu verheimlichen? Sie wartet ja schon Tag für Tag auf die Nachricht von der glücklich bestandenen Prüfung, geht kaum mehr aus dem Hause, um den Telegraphenboten nicht zu verpassen, und baut alle ihre Pläne darauf. Nein, nein – je schneller sie es erfährt, je besser wird es sein! Du mußt nur selbst erst ruhig werden, Väterchen, und stellst Du ihr dann vor, daß es viel Schlimmeres giebt als solch eine Schlappe, dann findet sie sich auch damit ab. Ihre große Zärtlichkeit für Leo, die Freude, ihn wieder hier zu haben, wird ihr über die Enttäuschung hinweg helfen. In erster Reihe beklagt sie doch nur die Nachteile, die er davon hat.“
„Wenn er noch ein dummer oder auch nur ein mittelmäßig begabter Mensch wäre“, klagte der Geheimrat. „Aber er ist ein feiner Kopf, seine Logik in allen juridischen Fragen hat mich oft überrascht, desto mehr muß ich jetzt an seinem Charakter zweifeln! Mit welchem Leichtsinn muß er vorgegangen sein – wie wenig muß er seine Zeit benutzt haben, daß er einer Kommission gegenüber, bei welcher ich meine nächsten Bekannten, ja Freunde habe, nicht einmal bestehen konnte! Und was soll das werden?“
„Nun, Papachen,“ sagte Lisbeth beschwichtigend und legte ihre Arme um ihn, „er wird sich eine Lehre daraus ziehen, und in ein paar Wochen ist die Scharte dann ausgewetzt.“
„In ein paar Wochen!“ rief der Geheimrat. „Er ist auf neun Monate zurückgestellt, die längste Frist, die es überhaupt dabei giebt – schon das beweist mir, wie es mit seinem Wissen bestellt ist!“
Er lief wieder hastig im Zimmer auf und ab.
„Aber ich Will ihm nun gehörig auf die Finger sehen! Hat er mein Vertrauen in sein Ehrgefühl so schwer getäuscht, so soll er meine rücksichtslose Energie empfinden. Arbeiten soll er lernen, arbeiten – arbeiten! Ach,“ brach es dann plötzlich wie ein Jammerlaut über seine Lippen, „es nützt doch alles nichts mehr, die Zukunft hat er sich total verpfuscht, ich kann mir das nicht verhehlen. Eine große Carriere, die ich für ihn erhofft hatte, die giebt es für ihn nicht mehr! Von der Erreichung höherer Grade ist er absolut ausgeschlossen! – Lisbeth,“ sagte er dann zögernd, nachdem er eine Weile still vor sich hin gesonnen hatte, „nimm es mir ab, der Mutter die Nachricht zu bringen! Ich bleibe hier; komme, wenn Du es an der Zeit findest, mich zu rufen, wieder zurück, mein Kind.“
Kaum war Lisbeth gegangen, als ihn die Angst packte, seiner Frau könnte der Schmerz und die Aufregung schädlich werden. Im Zimmer auf und nieder schreitend, blieb er jedesmal an der Thür stehen und lauschte hinaus, ob man ihn noch nicht rufe, oder ob oben Unruhe entstehe, die seine Befürchtungen bestätige. Als aber alles still blieb, ward ihm noch schwüler. Was ging da oben jetzt wohl vor? Gehörte er nicht jetzt an ihre Seite, war es nicht seine Pflicht, ihr beizustehen, sie zu trösten? Wie konnte er einem anderen – und wenn es auch ihr Kind war – dies überlassen?! Er eilte die Treppe hinauf, durchschritt den Vorsaal und trat hastig in das Wohnzimmer. Lisbeth und Elfe standen im eifrigen Gespräch neben der Mutter, die, mit scharf gerötetem Gesicht und blitzenden Augen, ihm zuwinkte und mit gedämpfter Stimme ihm entgegen rief: „Schmidt und Hanne sind im Nebenzimmer wegen des Kronleuchters, bitte, sprich leise, sie könnten es hören!“
Dann trat sie dicht an ihn heran und sagte mit vor Zorn bebender Stimme: „Welche Schande der Schlingel über uns bringt! Ich finde vor Empörung keine Worte!“
„Fasse Dich, Käthchen,“ mahnte er, „die Aufregung könnte Dir schaden und Dich krank machen. Und glaube mir, Frauchen,“ setzte er, in dem Verlangen, sie zu trösten, hinzu, „so schlimm ist die Sache nicht.“
„Nicht schlimm? Noch nicht schlimm genug?“ brach es über ihre Lippen. „Ich weiß nicht, ob er uns noch eine größere Schmach hätte anthun können! Man muß sich ja schämen, von ihm zu sprechen, man wird die Demütigung hinnehmen müssen, daß die Leute unseren Sohn – unseren einzigen Sohn, Erich – künftighin als Strohkopf, als Idioten ansehen werden! Ach Gott, ich habe immer so leichthin über das Examen gesprochen, mir schien solch’ ein Ende dieser Angelegenheit unmöglich, und nun die Schadenfreude der Leute – nein, das überlebe ich nicht!“
„Aber Mama“, sagte Lisbeth besänftigend, „Du fassest die Sache doch wirklich falsch auf. Es ist eine schwere Enttäuschung und eine große Unannehmlichkeit, wer wollte das verkennen; aber von Schande und Demütigung ist dabei doch nicht die Rede, und der Himmel wird euch davor bewahren, daß Leo uns wirklich einmal Schande macht.“
„Ach, verteidige ihn nur nicht,“ rief Elfe dazwischen, „ich bin ganz wütend über ihn! Hier hat er immer nur auf dem Sofa gelegen, wenn er einmal vom Früh- oder Abendschoppen heimkehrte, und dort flanierte er tagsüber „Unter den Linden“ und abends machte er Theaterstudien, vor und hinter den Coulissen. Man hat’s von jedem hören können, der in dieser Zeit in Berlin war, und nun haben wir den Schaden von seinem Leichtsinn. Bei uns hieß es nur immer: ,Sparen – sparen‘, damit der cher frère das Geld verprassen konnte. Und um seinetwillen durfte gar meine Verlobung nicht veröffentlicht werden! Walden wird außer sich sein über den Nichtsnutz!“
„Aber, Elfe!“ rief Lisbeth vorwurfsvoll dazwischen, und der Vater sagte bitter: „Nun, Elfe, Du sprichst ja sehr schwesterlich liebevoll von ihm, das muß ich sagen!“
„Sie hat ganz recht,“ grollte die Geheimrätin. „Ein Sohn, der so die Rücksicht gegen seine Eltern außer Augen setzt, ist selbst keiner Rücksicht mehr wert. Von Dir, Lisbeth, sind wir ja gewöhnt, daß Dir das Urteil der Gesellschaft keinen Respekt abnötigt, wir aber wissen, wie viel von ihm abhängt! Wie sollen wir uns überhaupt äußerlich dazu stellen? Ist es möglich, Erich, daß wir den Ausfall der Prüfung unseren Bekannten verheimlichen oder ihn totschweigen können?“
„Aber, Käthchen,“ sagte er mitleidig, „wie kannst Du so fragen? Du weißt es doch, wie vielen Du es selbst gesagt hast, daß in diesem Monat Leos Examen ist, und liegt Berlin denn auf einem anderen Planeten? Ich bin überzeugt, in den nächsten Tagen weiß es hier alle Welt, wir haben gar nicht nötig, zu überlegen, ob wir es melden oder verschweigen wollen.“
Sie stöhnte laut auf, schlug die Hände vor ihr Gesicht, und zwischen den Fingern tropfte nun das langverhaltene heiße, bittere Naß hervor.
„Nein, nein, ich ertrag’ es nicht! Ich fühle sie schon, diese bedauernden oder spöttischen Blicke, und mir vorstellen zu müssen, wie man mit teilnehmenden oder tröstenden Worten sich mir nähert – es ist entsetzlich! Man möchte vergehen vor Scham. Wenn ich nur niemand jetzt sehen müßte!“
„Nun, zunächst kommt die große Gratulationscour zu meiner Verlobung!“ sagte Elfe. „Länger wartet Walden nicht darauf; denn immerhin müssen von da ab noch vier bis sechs Wochen bis zur Hochzeit verstreichen, und Du hast ihm versprochen –“
„Aber davon kann gar nicht die Rede mehr sein,“ fiel ihr mit großer Bestimmtheit die Mutter ins Wort. „Ich werde das mit Walden vereinbaren. Er kann es mir nicht zumuten. Weder die Verlobung noch die Hochzeit werden wir feiern, ehe diese Angelegenheit nicht aus der Welt geschafft ist!“
„Aber, Mama,“ rief Elfe.
„Liebe Mutter, das geht nicht,“ bat Lisbeth, und der Geheimrat legte mahnend seinen Arm um die Schulter seiner Frau und sagte: „Nein, Käthchen, das Wort mußt Du zurücknehmen,
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0727.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2024)