verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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Lauterkeit des Charakters in den Augen braver Leute mehr gelte als Reichtum und Vornehmheit. – Und wenn er auch nie genug sie zum Fleiße und zur Tüchtigkeit ermahnen konnte, stets setzte er hinzu: was ihr auch erreicht im Leben, der Erfolg allein kann nicht das maßgebende Urteil über euch sein, die Hauptsache ist, daß ihr tüchtige, brave Männer werdet, denkende, strebende Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft, und daß ihr mit eurem Sein und euren Thaten vor eurem eigenen Gewissen und allen Edeldenkenden bestehen könnt!
Seine Frau, die, sehr viel jünger als er, an ihrem Manne mit einer an Verehrung grenzenden Zuneigung hing, war gewiß die erste, die seine Worte unterstützte und seinen Wünschen nachlebte. Er war ihr die höchste Instanz, und sie hatte den festen Glauben, daß er alles am besten wisse und beurteile. Deshalb fügte sie sich auch stets bedingungslos seinen Bestimmungen und verlangte dasselbe von ihren Kindern, wodurch sie bei ihren Knaben oft einen recht schweren Stand hatte. Für sein einziges Töchterchen, das neben den drei wilden Jungen wirklich wie eine liebliche Blume erwuchs, hatte der Oberst natürlich eine viel zartere und innigere Empfindung als für jene, sie ahnte selbst nicht, was sie dem Herzen des Vaters war und wie ihr anmutiges Wesen seine Tage verschönte.
Auch als sie dann gesellschaftsfähig geworden war, freute er sich an ihrer kindlichen Fröhlichkeit und sah mit Stolz in ihr vor Glückseligkeit gerötetes Gesichtchen, wenn sie im Ballsaal an ihm vorüberflog. Und wenn es ihm jetzt einerseits auch bequem war, daß die Anziehungskraft solcher Festlichkeiten für sie ganz unerwartet schnell verschwand, so empfand er es bei ihrer großen Jugend doch als etwas Ungewöhnliches und beobachtete seinen Liebling daraufhin mit sorgenden Augen.
Sie war so flink und tüchtig im Haushalt wie sonst, immer zärtlich um Vater und Mutter, immer freundlich um die Brüder bemüht, aber ihr jubelndes Lachen war verstummt, der kleine sonst so geschwätzige Mund konnte jetzt lange schweigen, und oft schauten die früher so lebhaft und interessiert um sich blickenden Augen jetzt gedankenvoll in die Ferne. Was war dem Kinde nur? Ob er wohl mit dem Arzte darüber sprach? – Zunächst hätte er es wohl gern mit seiner Frau erwogen, aber vielleicht sah sie die Veränderung Annies nicht, und in ihr Sorgen zu erwecken, indem er sie auf ein Uebel aufmerksam machte, ehe er eine Abhilfe ersonnen, das ließ seine Rücksicht für sie nicht zu.
Aber er behielt es immer im Auge, was seinem Töchterchen wohl gesund sein, was sie erfreuen könne, und legte sich selbst Entbehrungen auf, indem er seine Gattin zu Spaziergängen und Theaterbesuchen mit Annie beredete, von welchen er sich Anregung für sie versprach. Und wenn die beiden wiederkehrten und das kleine Fräulein dann lebhafter und rosiger als gewöhnlich ihm von den gehabten Genüssen erzählte, dann atmete er erleichtert auf, um freilich sofort seine Gedanken aufs neue nach einem ähnlichen Kurmittel auf Suche zu schicken.
An einem Morgen, nachdem er drüben in seinen Räumen die eingegangenen Postsachen durchgesehen, kam er mit einem offenen Briefe in der Hand ins Wohnzimmer, ging ein paarmal hastig auf und ab, und als er die Augen seiner Frau mit fragendem Ausdruck auf sich gerichtet sah, blieb er neben ihrem Nähtischchen, an dem sie, mit einer Handarbeit beschäftigt, saß, stehen und sagte: „Ich muß auf ein paar Tage nach Berlin. Es liegen jetzt gerade im Kriegsministerium die Pläne und Entwürfe für die neue Kaserne meines Regiments vor, und man schreibt mir hier, Excellenz wünsche meine Ansicht über einige Punkte zu hören.“
„Wann willst Du fahren, Männchen?“
„Ich überlege es eben: – reise ich allein, so werde ich den Nachtkurierzug benutzen, im anderen Fall –“
„So, es ist noch jemand dorthin befohlen? Das ist schön! Ich weiß Dich bei der langen Fahrt so viel lieber in bekannter Gesellschaft.“
„Befohlen ist niemand mit mir, und die Reisegesellschaft möchte ich mir nach meiner Neigung wählen. Ich dachte nämlich, daß es für Annie gewiß recht gut wäre, wenn sie ein wenig hinauskäme – und wenn ihr beide mich begleiten wolltet –“
In lebhafter Freude erhob sich Frau von Giersbach.
„Aber Männchen, das ist ja ein ausgezeichneter Gedanke – natürlich, Annie begleitet Dich – wie wird sie sich freuen! Ich kann leider nicht mitfahren, Du weißt ja, daß übermorgen die neue Köchin eintritt! Aber Annie kann doch ganz gut allein mit Dir reisen! Es ist wirklich lieb von Dir, daß Du daran gedacht hast!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie innig.
„Ich fürchte nur, sie wird dann viel auf sich angewiesen sein – vermutlich werde ich ziemlich fest hinter den Zeichnungen und Anschlägen sitzen müssen, denn länger als ein Paar Tage bin ich hier nicht abkömmlich.“
„Ach, das thut nichts, Männchen, solch’ ein junges Menschenkind ist bald befriedigt. Und dann findet sie ja Anschluß bei meiner Cousine Emma!“
„Richtig!“ rief er vergnügt. „Daran dacht’ ich noch gar nicht. Nun bin ich ganz unbesorgt!“
„In die Museen und das Königliche Schloß kann sie auch ganz gut allein gehen. Und wenn Du dann abends frei bist, besucht ihr zusammen ein Theater!“
„So hab’ ich’s mir auch gedacht. Aengstlich ist sie ja nicht, sie wird sich schon zu helfen wissen; denn mit ihr einen Besuch zu machen, dazu bin ich wirklich außer stande.“
„Das brauchst Du auch nicht und dann – Annie ist ja sehr selbständig und wirklich ganz vernünftig. Du wirst sehen, sie macht Dir keine Ungelegenheiten und Unbequemlichkeiten. Auf der langen Fahrt hast Du an ihr gute Gesellschaft, und für sie wird die Reise wirklich Medizin sein. Wollen wir es ihr nun sagen – darf ich sie jetzt rufen?“
Die Frage war noch nicht verklungen, da öffnete sich die Thür; Annie guckte ins Zimmer und sah sehr verwundert auf den Papa, der um diese Stunde sein Arbeitszimmer nur in außerordentlichen Fällen verließ, und dann auf die Mama, auf deren Gesicht sie eine fröhliche Neuigkeit zu lesen meinte.
„Mama?!“ –
„Komm nur herein, Kind, und bedanke Dich bei Papa! Er reist auf ein paar Tage nach Berlin und nimmt Dich mit!“
„Nach Berlin – und nimmt mich mit?“ Sie wiederholte die Worte, als müßte sie sich das Verständnis für dieselben erst zum Bewußtsein bringen. Dann stieß sie einen Jubelschrei aus, sprang in die Höhe und flog dem Oberst um den Hals.
„Papa, Papa – himmlischer Papa, das ist ja gar nicht auszudenken! Nach Berlin – nach Berlin!“ – Sie ließ von ihm ab und walzte in der Stube herum, um gleich danach wieder ihre Arme um den Hals der Mutter zu werfen.
„Liebste, beste Mama, dazu hast Du Papa angestiftet – nicht wahr? Aber Du – Dich nehmen wir nicht mit?“
„Nein, das ginge doch nicht, Annie. Eins von uns beiden muß bei den Knaben bleiben. Dann bedenke – die neue Köchin! Und einen Gewinn habe ich doch davon: wir können hernach zusammen von Berlin plaudern!“
„Ja, das wollen wir! Was werde ich nicht alles sehen, und dann erzähle ich Dir davon, und wie köstlich wird es sein, zu denken, daß ich es für Dich mit genieße!“
Sie wirbelte wieder im Zimmer herum, hochrot im Gesicht, und rief immer von neuem aufjauchzend: „Nach Berlin – nach Berlin!“ bis die Mutter sie mahnte, sie müsse nun gleich an Tante Emma schreiben, um ihren Besuch anzumelden.
Der Oberst, der solche Ausbrüche ihres übersprudelnden Gefühls, seit sie erwachsen war, noch nie gesehen hatte – denn der Respekt vor ihrem Vater hielt sie doch immer in gewissen Schranken – war ganz beglückt. So hatte er also wirklich das Richtige für sie gefunden, sie war ja jetzt schon wie ausgetauscht durch diese Aussicht; wie mußte da erst die Reise selbst wirken!
Nun erwog man eifrig den Reiseplan. Von der nächtlichen Fahrt wollte er jetzt nichts wissen, obwohl Annie immer bat, auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen; aber er blieb dabei, schon am frühen Nachmittag reisen zu wollen: dann würde man immerhin noch einige Stunden Schlaf in der Nacht retten, und wenn sie am Morgen im Gasthof erwachten, wären sie gestärkt, er für die Arbeit, sie für das Vergnügen des Bekanntwerdens mit der Kaiserstadt.
Jetzt ging es hurtig an die Vorbereitungen für diese Reise. Papa brauchte einen Koffer für die Uniform zur dienstlichen Meldung, aber Annie sollte nichts mitnehmen als das neue Frühlingskleid, das sie erst mit so gleichgültigen Augen angesehen hatte und dessen Besitz sie jetzt der Mutter als ein „Glück“ pries. Sie holte es hervor, hielt das Leibchen gegen ihr Gesicht und vergewisserte sich, ob ihr die Farbe wohl auch kleidsam sei. Derselbe prüfende Eifer bei der Erwägung, welchem Hute sie den Vorzug geben sollte – und das alles in des geliebten Vaters Gegenwart, der früher stets so
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0743.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2024)