verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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Nr. 45. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Geschwister.
(7. Fortsetzung.)
Wie fest sie geschlafen hatte! – Eben hob Annie die Lider und ließ einen müden Blick über die Wände gleiten – ach, sie träumte ja noch – träumte einen Traum, den sie unzähligemal in diesem Winter geträumt hatte! Sie schloß die Augen wieder und legte sich auf die andere Seite – aber das Rascheln der seidenen Decke, die ungewohnte Weite des Bettes erweckten sie aufs neue. Etwas bewußter öffnete sie jetzt die Augen und sah sich um. Nun kamen auch die Gedanken noch deutlicher; mit einem leisen Schrei sprang sie auf, eilte ans Fenster, schob die Gardine ein wenig beiseite und starrte auf die Straße. Also kein Traum, es war Wirklichkeit – beseligende Wirklichkeit – sie war in Berlin! Wie mit einem Schlage war alle Schlaftrunkenheit von ihr genommen, sie schlüpfte in die Kleider mit einer Hast, als sei jede Minute Zeit ein erheblicher Gewinn, strich dann glättend über das wellige Haar, und als sie im Nebenzimmer ihres Vaters Schritte hörte, klopfte sie ganz flott an die Verbindungsthür und fragte mit munterem Tone, ob sie nicht zusammen frühstücken würden.
Die Antwort des Obersten klang zwar freundlich, aber doch nicht so heiter als sie erwartet hatte. Und als sie nun bei ihm eintrat und nach einem innigen Guten Morgenkuß liebevoll in sein Gesicht schaute, las sie darin von verhaltenem Aerger.
Auf ihre Frage wies er nach dem Tisch und reichte ihr dann selbst einen dort liegenden geöffneten Brief.
„Von Tante Emma – aber denke Dir, aus Friedrichroda! Müssen die gerade verreist sein, wo ich Deinetwegen so sehr auf ihre Anwesenheit hier gerechnet! Du schriebst ihr ja die Adresse unseres Hotels, und so war sie wenigstens in der Lage, uns gerade noch rechtzeitig davon in Kenntnis zu setzen!“
Das Erscheinen des Kellners mit dem Kaffee schnitt ihm die weitere Aussprache seines Aergers ab. Er schwieg verstimmt. Sein Töchterchen aber, die nun für sich den Brief der Tante überflog, ließ sich ihre heitere Stimmung durch seinen enttäuschenden Inhalt gar nicht verderben. Und während sie dann daranging, in hausmütterlicher Fürsorge dem Vater das Frühstück zurechtzustellen, sagte sie zuversichtlich zu diesem: „Das ist freilich schade, daß Tante Emma verreist ist – aber nicht wahr, Väterchen, Du läßt Dir dadurch nicht weiter die Laune trüben! Nennst mich ja so gern Dein tapferes Soldatenkind! Du wirst mir schon sagen können, was ich auch ohne Begleitung von den Sehenswürdigkeiten Berlins besuchen darf.“
Der zuversichtliche Ton, den das Mädchen zu finden wußte, zerstreute sichtlich die Sorgen, welche den Vater noch eben beherrscht hatten.
„Recht so, kleiner Kamerad,“ sagte er und trat an den Tisch, wo neben dem Kaffeeservice ein Plan von Berlin ausgebreitet lag; „es bleibt uns ja auch nichts übrig, als uns in die Lage zu schicken! Siehst Du, hier auf dem Plane habe ich Dir mit Rotstift den Weg bezeichnet, den Du heut’ gehen sollst. – Also merk’ auf! Unser Hotel liegt dicht an den ,Linden‘“ – er öffnete das Fenster und zeigte ihr die nahe Straße, ohne sehen zu können, wie heftig sein sich mit herausbeugendes Kind bei diesem Worte errötete. Die „Linden“ – jubelte es in Annie – nur zwanzig Schritte, dann war sie da – und diese „Linden“ waren ja die ganze lange Zeit her das heimliche Ziel ihrer Sehnsucht gewesen! Hatte Elfe damals doch gesagt: wenn er nicht
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0757.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2024)