verschiedene: Die Gartenlaube (1896) | |
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„Na,“ meinte Annie, „er ist doch auch Offizier, wenn auch nur in der Reserve; da denke ich, so viel, als mir davon zu wissen gut thut, weiß er auch.“
„Freilich, so wird’s wohl sein, Du kleines kluges Kick-in-die-Welt! Und wenn’s nicht die Geschütze sind, so ist’s 6die Ruhmeshalle, da kannst Du Deine vaterländischen Geschichtskenntnisse repetieren, nicht? Möchtest wohl gern noch recht viel sehen, Kleine – natürlich! Na, ich habe nichts dagegen, wenn er so viel Zeit übrig hat. Er kommt ja morgen vormittag her. Da werden wir ja sehen –“
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Am anderen Morgen – Annie war erst spät eingeschlafen – erweckte sie der sporenklirrende Schritt ihres Vaters vor ihrer Thür.
„Mach’ auf, Kind, ich muß Dich sprechen!“
Sie fuhr erschreckt aus den Kissen auf, drehte den Schlüssel um und huschte wieder unter das Deckbett, als der Oberst die Thür öffnete und ins Zimmer trat. Er sah ganz sorgenvoll drein und sagte: „Liebe Annie, ich muß schon jetzt ausgehen. Mit der verdammten Federfuchserei bin ich nicht zu stande gekommen, mir fehlen allerlei Notizen, die ich in der Kanzlei einsehen muß; da wollte ich Dir Adieu sagen. Und hier, mein Kind, ist eine Karte von Mama. Sie mahnt sehr, daß ich Dich in ein Theater führe. Bin’s aber außer stande! Das Anerbieten des jungen Brückner ist mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Frage ihn in meinem Namen, ob er Dich auch in ein Theater begleiten kann. Er müßte aber auch für Deine ungefährdete Heimkehr eintreten – abends Dich allein zu lassen, ist mir zu ängstlich. Anders kann ich Mamas Wunsch nicht erfüllen.“
„Ach, Papachen, er thut’s gewiß sehr gern, wenn er euch eine Freude macht. Er ist ja so liebenswürdig!“
„So – liebenswürdig ist er?“ fragte etwas gedehnt der Oberst.
„Nun ja, Papachen, und ihr seid doch auch mit seinen Eltern befreundet, da ist es doch natürlich, daß er, so weit er kann, euch gefällig ist.“
„Freilich – ich meine das ja auch. Sage ihm nur, ich rechne auf ihn – zu Gegendiensten allezeit bereit und so weiter, und nun adieu, Kind, adieu!“
„Adieu, Papachen, und“ – viel Vergnügen! hatte sie rufen wollen, aber sie besann sich zur Zeit noch, daß sie es war, der das Vergnügen winkte, und so verschluckte sie schnell das Wort und zog die Decke über ihren Kopf, um dem hellen Jubel, der sie durchströmte, in einigen unartikulierten Tönen Luft zu machen. – Nein, dieses Berlin, dieses Berlin – was hatte es nicht alles zu geben! Wie zauberhaft war solch ein Tag wie dieser, der ihr jetzt entgegen lachte!
Und nun wieder dieses hastige Frühstücken, diese sorgfältige Toilette, dieses eifrige Erwägen, ob sie den Hut wohl mehr in die Stirn oder mehr in den Nacken setzen solle – dazwischen wieder ein Blick auf die Uhr, im Herzen aber immer die selige Gewißheit: nur noch eine Stunde – nur noch eine halbe – eine Viertelstunde – dann war die Erfüllung dieser Sehnsucht da!
Auch diese Viertelstunde verging – sie hatte kaum den letzten Knopf am Handschuh zugemacht, da klopfte es an die Thür, und Herr Referendar Brückner trat ein.
„Punkt halb elf!“ sagte er, die Uhr ziehend.
„Punkt halb elf!“ wiederholte sie.
„Wie ein anständiger Mensch!“ betonte er.
„Wie ein anständiger Mensch,“ bestätigte sie, und nun steckte er die Uhr ein, schüttelte herzhaft ihre Hand und fragte: „Zum Bleiben oder zum Scheiden?“
Und sie nickte. „Zum Bleiben – zum Bleiben! Papa läßt sich Ihnen empfehlen, er konnte nicht so lange warten, mußte in die Kanzlei, und läßt Sie nun bitten, sich seiner verwaisten Tochter anzunehmen!“
„Köstlich, köstlich! So, und nun machen Sie einmal diese Rosen fest, die werden Ihnen famos stehen – hier ist auch eine Nadel dazu – ja, wenn man eine Dame begleiten darf, muß man an alles denken. So – wirklich reizend!“
In glückseliger Stimmung verließen die beiden jungen Menschenkinder das Hotel.
„Und nun geben Sie mir den Arm, bitte,“ begann Leo auf der Straße. „Ja wirklich, gnädiges Fräulein, geben Sie ihn mir! Wenn Sie auch nicht so ermattet sind wie gestern, ich kann Sie besser davor schützen, daß Sie es nicht auch heute werden – und dann, Berlin ist anstrengend, man hält besser die Kräfte zusammen, wenn man sich vorsieht. So – das ist nett, ist’s nicht viel hübscher so zu zweien?“
Natürlich war’s hübscher, sie ging wie auf Wolken vor Glückseligkeit, und er führte sie so zart und so sorgsam und paßte seine Schritte so genau den ihren an – sie wünschte im Herzen, die „Linden“ wären so viel Meilen lang wie Minuten.
Aber wie köstlich war es auch im Zeughause! Während sie unter den Kanonen herumspazierten, erzählten sie sich allerlei Geschichten, die nichts mit Streit und Krieg zu thun hatten. Nur ab und zu machte er sie auf dieses oder jenes Geschütz aufmerksam und ermahnte sie, sich gründlich alles Beachtenswerte daran „für den Herrn Papa“ zu merken, und sie blickte ihn dann verständnisinnig, aber sehr errötend an und repetierte alles Gehörte „für den Herrn Papa“. Und dann gingen sie nach der Ruhmeshalle und begannen, sich die Daten und Zahlen zu den dort verewigten Geschichtsmomenten abzufragen, und lachten kindisch, wenn eines das andere überlistete. Und dasselbe lustige Belehren im Alten Museum, dasselbe Studieren der neueren Kunstwerke unter Jubel und Scherz in der Nationalgalerie – es war doch zu herrlich, dieses Berlin!
So gingen die Vormittagsstunden hin.
„Nun essen wir in den Wilhelmshallen zu Mittag und trinken den Kaffee bei Bauer,“ sagte er. „Da will ich einmal den Herrn von gestern neidisch machen. Ja, ja, so gut ist’s mir lange nicht gegangen.“
Sie lächelt und errötet und drückt ein ganz klein wenig seinen Arm – es war doch zu wonnig, in seiner lieben Gesellschaft zu sein, sich unter seinem ritterlichen Schutze geborgen zu fühlen - welches Glück, daß sie diesen Tag erleben durfte!
Auch dieser Teil des Programms wurde zur beiderseitigen Zufriedenheit erledigt, dann pfiff der Kellner nach einer Droschke, fort ging’s zum Tiergarten, und nun machten sie Standesvisiten, wie Leo sagte. Erst der Königin Luise, dann dem König Friedrich Wilhelm dem Dritten, nun den Königen im Reiche der Geister: Goethe und Lessing, und zuletzt dem König der Tiere, dem Löwen, der, wenn auch in Erz gegossen, mit seinen Klagelauten um die sterbende Lebensgefährtin den Park zu erfüllen scheint.
Wie herrlich das alles war – wie zauberhaft und wundersam! – Ihr fröhliches Lachen verstummte fast, sie gingen schweigend im Waldesschatten des Tiergartens auf und nieder, ganz überwältigt von der Lenzespracht um sie her. Die Sonne warf ihre schräg fallenden Strahlen durch das helle, zarte Frühlingslaub der Bäume, über die Gesträuche, die sich schon mit duftenden Blüten schmückten, schimmerte auf dem Sammet der grünen Rasenflächen und ließ ihre Reflexe spielend durch die Zweige gleiten, auf denen im Liebesgetändel die Vogelwelt zwitscherte.
Am Goldfischweiher auf einer Bank nahmen sie nun Platz, und ihr Gespräch wandte sich hier einer ganz anderen Richtung zu. Er blickte immer erstaunter auf ihre kindliche Erscheinung, wenn sie eine Bemerkung machte, die ihm von ihrem regen Geistesleben Kenntnis gab und ihn darüber belehrte, daß dieses blonde Köpfchen ganz ernster – eigentlich für ihre Jugend viel zu ernster Gedanken fähig sei. – Wie schnell ein Mädchen reift! dachte er. Ist es die Luft in ihrem Elternhause, sind es innere Erlebnisse, die diese Gemütstiefe entwickelten? Merkwürdig – Schwester Elfe war ganz anders! –
„So,“ sagte er nach einer Weile stillen Nachsinnens, „auch diese Stunde war ganz wunderschön, aber Sie sehen, mein Fräulein, die Sonne sinkt, und wenn wir noch ins Theater wollen, ist es höchste Zeit. Also, wohin nun?“
„Wo es lustig ist,“ antwortete das kleine Fräulein und strahlte schon wieder vor jugendlicher Fröhlichkeit.
„Wo es lustig ist,“ wiederholte er nachdenkend, „ja – wohin denn?“
„Ich weiß es!“ ruft sie plötzlich, „wir gehen ins Apollo-Theater!“
„Ins Apollo-Theater?“ fragt er staunend und sieht sie verwundert an, „was wissen Sie von dem?“
„Ja,“ erzählt sie eifrig und ganz voll Stolz, daß sie auch etwas vorzuschlagen weiß, „ich hörte davon. Kennen Sie es nicht? Es soll höchst amüsant sein. Trapez- und Zauberkünstler sind dort, die sah ich noch nie – und hernach tanzen wunderschöne Damen allerlei schnurrige Tänze.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0762.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2024)