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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0807.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Dann also – auf Wiedersehen?“

„Auf Wiedersehen!“

Und sie ging eilenden Schrittes die Landstraße entlang, während ihre aufgeregte Phantasie mit dem ihr so tief bemitleidenswert erscheinenden Schicksal des jungen Mannes und den „strafenden Worten“, zu denen sie sich mit so viel Ueberwindung gezwungen hatte, beschäftigt war.

Fast acht Wochen war er in der Stadt, täglich und stündlich hatte sie darauf gehofft, ihn zu sprechen, und immer erwies sich die Hoffnung als trügerisch. Dabei hatte sie den brennenden Wunsch, ihm in dieser Zeit des Kummers ein ganz klein wenig sein zu können, ihm, der, seit sie ihn das erste Mal gesehen, alle ihre Gedanken erfüllt hatte, für den sie freudig ihr Leben hingegeben hätte, wenn sie damit sein Glück hätte erkaufen können!

Ab und zu gelang es ihr, auf der Straße Lisbeth zu treffen, die, veranlaßt durch Annies warmherzige Teilnahme, ihr mehr von ihren häuslichen Verhältnissen erzählte als sie es gegen andere that. Von ihr erfuhr sie, wie Leo jetzt als Fremdling im elterlichen Hause lebte und wie seine Stimmung stets düsterer und hoffnungsloser wurde. Als die Mädchen das letzte Mal sich getroffen, hatte Lisbeth unter heißen Thränen ihr gestanden, sie fürchte das Schlimmste für ihren Bruder, er werde immer unzugänglicher, löse sich immer mehr von ihnen allen los, und sie sei gewiß, er brüte Entsetzliches. Alles deute darauf hin, und wenn er in der Dämmerstunde das Haus verlasse, erzittere sie allemal vor Angst und Pein, ob er wohl wiederkehre.

Nach diesen Mitteilungen war Annies Entschluß gefaßt, und am anderen Tage, als das Tageslicht verschwand, stand sie vor der Brücknerschen Wohnung und wartete auf Leo. Sie wollte ihn sprechen, wollte ihn trösten, ermahnen, ihm ins Gewissen reden – sie wollte als Freundin an ihm handeln, wollte, unbekümmert um die Welt, zu ihm stehen und ihn darauf verweisen, daß es Menschen gebe, denen er trotz seines verschuldeten oder unverschuldeten Mißgeschicks derselbe geblieben sei. Sie war ganz gefaßt darauf, daß er sie zurückweisen, daß er sie kalt und abstoßend behandeln würde, wie er jetzt sogar seine Schwester Lisbeth behandelte, aber sie war ihres Herzens sicher – er bedurfte ihrer, sie mußte ihm Teilnahme und Trost bringen!

So sah sie ihn das Haus verlassen, sah ihn durch einsame und stille Straßen gehen und schließlich die kleine Parkanlage, in der er vor jedem Menschen sicher war, aufsuchen. Auch dahin folgte sie ihm; aber nun sie vor der That stand, fehlte ihr der Mut, und sie ließ ihn wieder fortgehen, ohne ihn angeredet zu haben. Am nächsten Tage derselbe Versuch und wieder ohne Erfolg! Sie war auf der Landstraße dicht an ihm vorbei gegangen, er hatte nicht aufgesehen, war aus seinem brütenden Sinnen nicht erweckt worden, und als sie dann nach Hause ging, flossen ihre Thränen gleich heftig über sein elendes Aussehen wie über ihre eigene Energielosigkeit. Fast die ganze Nacht hatte sie schlaflos dagelegen, und als sie gegen Morgen einschlummerte, zeigte ihr der Traum ein solch’ entsetzliches Bild, daß sie mit einem lauten Schrei erwachte. Noch unter dem Einflusse dieses Eindrucks wurde es ihr verhältnismäßig leicht, ihr Ziel zu erreichen. Sie suchte ihn auf, veranlaßte ihn, sie anzusprechen, und wie sie spürte, daß es ihm gut that, sich das Herz frei zu reden, dem Groll und der Bitterkeit einmal Zügel schießen zu lassen und auch in Ruhe und Besonnenheit ihre Einwendungen und Vorstellungen anzuhören, da schwellte ein wahrer Heldenmut ihre Brust und sie war entschlossen, allem zu trotzen und alles zu ertragen, wenn sie ihm nur nützen konnte.

Einen Augenblick dachte sie sogar daran, ihren Eltern alles mitzuteilen, in erster Reihe auch ihr Versprechen, morgen wieder an jenem einsamen Platze mit ihm zusammenzutreffen, aber nach einiger Ueberlegung sah sie davon ab. Sie kannte ihren großdenkenden Vater, ihre edle Mutter; wenn sie ihnen später die Wahrheit eingestand, nachdem sie ihr Werk vollendet und Leo den Mut zum Leben zurückgegeben hatte, würden sie ihr die Eigenmächtigkeit des Handelns und ihre Verschwiegenheit verzeihen! Bis dahin wollte sie es allein tragen, aber ein eigenes hoffnungsfreudiges Gefühl in ihrem Herzen sagte ihr, daß sie dieses Ziel erreichen, bald erreichen werde.

Von nun ab gingen sie beide täglich in der Dämmerstunde nach dem Gehölze, oft waren es nur ein paar Minuten, die sie bei einander standen, nur ein freundliches Wort, eine teilnehmende Frage, die sie tauschten, aber dieses kurze Beisammensein tröstete sie und wurde bald der Mittelpunkt, um den sich alle ihre Gedanken drehten. Er hatte ihr noch oft von trüben Erfahrungen zu erzählen, sie mußte noch sehr häufig Ausbrüche seiner Entmutigung, seiner Trostlosigkeit anhören, aber ihren beschwichtigenden Worten gelang es immer wieder, ihn aufzurichten, ihm Mut und Vertrauen zu einer besseren Zukunft einzuflößen.

Einmal brachte er ihr auch einen Brief mit, den ihm ein Studiengenosse, welcher in einer kleinen Stadt der Provinz praktischer Arzt war, geschrieben und der ihn wegen seines warmen Tones tief berührt hatte. Beim schwachen Scheine eines Wachszündlichtchens las er denselben „seiner Freundin“ vor, und sie fühlte die Thränen in die Augen schießen, nicht nur über den herzlichen Ausdruck dieser Jugendfreundschaft, sondern vor unendlicher Freude darüber, daß er sie seine Freundin nannte.

Das war aber auch das einzige Mal, wo er seinem Empfinden für sie Worte gab. Nie änderte sich der Ton ihres Verkehrs. Wie gute Kameraden, die ihres gegenseitigen Interesses sicher sind und deshalb keiner besonderen Versicherung in diesem Punkt gebrauchen, so gaben sie sich einander. Sie sah ihn vor dem Gehölze stehen und den Weg hinunterschauen, den sie kommen mußte, wenn sie aus dem Stadtthore trat, und wieder stand er da und bewachte ihre Schritte, wenn sie sich getrennt hatten. Daß er nicht mit ihr ging, war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen, und auch als sie ihn einmal aufforderte, sie nach Hause zu begleiten und den Abend bei ihren Eltern zuzubringen, lehnte er es ab.

So waren wieder Wochen vergangen. Da, an einem Spätnachmittage, um die Stunde, in der Annie sonst ihren täglichen Ausgang machte, ging sie in ihres Vaters Zimmer, zog die Thür fest hinter sich zu und setzte sich zu ihm auf das Sofa. Als sie nach einer halben Stunde wieder heraus kam, waren ihre Augen gerötet, aber ein heller, hoffnungsfreudiger Ausdruck lag in ihren Mienen und erhöhte sich noch, als sie wenige Minuten später an der Seite ihres Vaters den alltäglich begangenen Weg hinunterschritt.

Herr Leo Brückner war nicht eben angenehm überrascht, als er die beiden Plötzlich vor sich sah. Er kannte den Oberst eigentlich sehr wenig, war dem „brummigen Alten“, wie ihn Fernstehende schlechtweg bezeichneten, immer gern ausgewichen, und bei der Menschenscheu, die ihn jetzt beherrschte, wäre ihm gewiß nie beigekommen, sich Annies Vater irgendwie zu nähern. Aber er war doch zu sehr Weltmann und fühlte es auch als notwendige Rücksicht gegen Annie, daß er mit keiner Miene diese Empfindung verriet und ihrem Vater auf dessen Gruß ebenso unbefangen hier auf der Landstraße, in dem Dämmerlicht des Wintertages, entgegentrat wie in den Salons, in welchen sie sich vordem begegnet waren.

„Sie machen auch einen Spaziergang, Herr Brückner?“ fragte der Oberst. „Meine Tochter erkannte Sie gleich, als ich kaum noch eine Gestalt zwischen den Bäumen sah. Ja, junge Augen, das ist etwas anderes! Uebrigens ein ungemütliches Wetter – wollte die Kleine erst gar nicht mitnehmen – bin hier nämlich gewissermaßen auf einem Dienstwege, da ich dort drüben in der Vorstadt die Ställe einmal selbst ein wenig revidieren wollte. Recht lange nicht gesehen, Herr Brückner! Ist Ihnen nicht gut ergangen in der Zeit? Na, das ist nicht anders im Menschenleben – einmal geht’s mit uns bergauf, das andere Mal bergab! Hat’s jeder erfahren, der sich das Leben schon eine Weile so mit ansieht. Thut auch nichts – es stärkt die Muskeln zum Kampfe! Sich nur nicht selbst verlieren – nur den Mut nicht sinken lassen – immer stramm die Hand ans Gewehr! Uebrigens, Herr Brückner, ich bin ja noch in Ihrer Schuld. Sie sind damals in Berlin so überaus freundlich meiner Bitte gefolgt, mich bei meiner Tochter zu vertreten. Die Kleine war ganz glücklich, daß sie auf diese Weise das Schönste, was die Residenz bietet, in den zwei Tagen sehen konnte. Aber höre einmal, mein Kücken, Du kannst umkehren. Dieser Ostwind gefällt mir für Dich gar nicht. Da Herr Brückner nur einen Spaziergang macht, ist es ihm gewiß recht, mit mir zusammenzugehen – also, marsch vorwärts, und sieh zu, daß die Jungen zu Haus ihre Schuldigkeit thun!“

Erst nach fast zwei Stunden kam der Oberst nach Hause, und der Bursche, der ihm die Thür geöffnet, meldete es Annie, die eben die letzte Hand an den gedeckten Theetisch legte.

„Mit dem Herrn Oberst ist noch ein junger Herr mitgekommen, aber nur in Civil – kein Herr Lieutenant“, setzte er hinzu.

„Mutterchen, hier bringe ich Dir einen Gast,“ rief der Oberst,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0807.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2024)
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