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Seite:Die Gartenlaube (1896) 0824.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (11. Fortsetzung.)

14.

In dem vormals so lebhaften Brücknerschen Hause war es sehr still geworden. Die langen Wochen schlichen ohne Ereignisse einförmig dahin und die Frau Geheimrat, sonst die Seele der Geselligkeit, überließ jetzt das Veranstalten und Betreiben von Festen den anderen. Sich an Lisbeth näher anzuschließen, deren geräuschloses aufopferndes Walten sie längst als etwas Selbstverständliches betrachtete, kam ihr nicht in den Sinn, ja, sie fühlte sich eigentlich stets gereizt durch die Wahrnehmung, wie intim Lisbeths Verkehr mit dem Römerschen Hause war und blieb. Dort stellte sich nun allmählich klein Liesel auf ihre dicken Füßchen und war ein so ausgemachtes Wunderkind, als nur je eines das Entzücken liebender Großeltern und einsamer Tantenherzen erregte. Arnold war froh, sein Kind in so guter Obhut zu wissen; ihn selbst traf bald nach Gertruds Tode der Ruf in das Reichspostamt nach Berlin, und obgleich die Eltern sein Scheiden beklagten, mußten sie sich doch sagen, daß eine solche neue und starke Thätigkeit ihm wohl am besten über die erste schwere Trauerzeit hinweghelfen würde. So hatte Lisbeth dort viel mit zu erleben, aber sie selbst brauchte ebenfalls recht notwendig die Wärme der gemütlichen Familienstube bei ihren alten Freunden und die Liebe des blonden Lockenköpfchens, das sich so besonders gern an ihre Schultern schmiegte. Denn in ihrem eigenen Hause senkten sich die Wolken immer tiefer. Die Geheimrätin hatte, so schwer es ihr ankam, von Waldens ehelichen Zerwürfnissen sprechen müssen; da sie ihren Gatten dabei nach Möglichkeit schonen wollte, so war es eben immer wieder Lisbeth, die ihre Klagen anzuhören hatte. Seit sie wieder ihre gewohnte Autoritätsstellung zu Hause einnahm, beurteilte sie Elfes Betragen gegen ihren Mann und Waldens Schwäche und Inkonsequenz noch um vieles schärfer als vorher.

Sie schrieb ausführlich an Elfe, bat, beschwor sie, sich zu ändern, um nicht schließlich durch eigene Schuld das schätzbare Gut einzubüßen, das ihr zugefallen war, und grämte sich bitterlich darüber, daß ihre Tochter es nicht für nötig hielt, davon Notiz zu nehmen. Dann, als sie trotzdem, getrieben von ihrem mütterlichen Pflichtgefühl, nicht abließ, antwortete Walden darauf und bat sie, diese gewiß sehr gutgemeinten, aber seine Frau zu sehr erregenden Ermahnungen doch zu lassen; er kenne seine Elfe, wisse, wie wenig ernst ihre Neckereien und Vorwürfe zu nehmen seien, und meinte schließlich, er sähe bestätigt, daß keine dritte Person ein eheliches Verhältnis richtig beurteile, nicht einmal eine so zärtlich liebende Mutter wie sie.

Die Geheimrätin warf in heftigem Aerger den Brief auf den Tisch; diesem Manne war also nicht zu helfen, sie würde kein weiteres Wort in der Angelegenheit und in seinem Interesse verlieren – mochte er die Folgen seiner Schwäche tragen! Dann versank sie, tief in den Sessel zurückgelehnt, in unerfreuliche Gedanken. Das war nun der Lohn ihrer rastlosen sorglichen Muttertreue! Alles mißglückt, nirgends ein Trostpunkt! Selbst Lisbeth, an der persönlich nichts auszusetzen war, wie fern und fremd stand sie der Mutter durch ihre Verständnislosigkeit für die höheren Lebensziele gegenüber! Welche gewöhnliche Neigungen! Ob sie, die Geheimrätin, wohl je im Leben auf den Gedanken gekommen wäre, sich derartig intim mit einer Volksschullehrersfamilie einzulassen! Und nicht allein, daß sie diese Freundschaft pflegte, sie ging sogar so weit, derselben in jeder Gesellschaft zu erwähnen, sich gewissermaßen dieser Beziehungen zu rühmen. Immer, wenn sie etwas Gutes, Braves, Nachahmungswertes bezeichnen wollte, schwebte der Name Römer auf ihren Lippen! Und gar die Zärtlichkeit für das Enkelchen der alten Leute! Täglich mußte sie das Kind sehen, und in den Nachtstunden saß sie in ihrem Zimmer bei der Lampe, um Püppchen, Spielereien oder zierliche Kleidungsstücke für dasselbe zu arbeiten. Und konnte man annehmen, daß dieses nur Aeußerungen einer freundschaftlichen Empfindung waren, oder stand der Geheimrätin das schon einmal Erlebte aufs neue bevor? – Ach, daß auch die Frau dieses Arnold Römer sterben mußte, diese Frau, gegen welche sie unausgesprochen immer ein dankbares Gefühl gehegt, weil sie ihr eine Sorge vom Herzen genommen hatte, deren Schwere sie jetzt noch fühlte!

Zehn Jahre waren es nun her, daß dieses Stück spielte, zehn Jahre, daß sie alles gethan, um Lisbeth von einem Schritte zurückzuhalten, der in ihren Augen gleichbedeutend mit Schande war. Ihre Tochter – die Braut eines Postschreibers! Wie hatte sie sich gesorgt, wie viel dagegen geredet und wie über die Möglichkeit zu Lisbeth gespöttelt, bis sie einen Erfolg ihrer Vorstellungen bemerkte und ihr dann selbst die gehegte Befürchtung grundlos erschien! Aber daß Lisbeth seit jener Zeit eine so ganz andere geworden war, so schweigsam und frühreif und daß ihr kindlicher Frohsinn ganz und für immer schwand, hatte ihr dann gezeigt, wie ernst die Sache gewesen und wie recht sie gehabt, doch so energisch einzugreifen. Und jetzt, nach zehn Jahren, kamen die gleichen Sorgen wieder und sie mußte sich sagen, daß ihre älteste Tochter nicht mehr das weiche, biegsame Geschöpf von ehedem war, das sich ihren Ansichten und Wünschen in diesem Punkte unterordnete. Wenn sie ihr Herz an ihn gehängt, würde sie sein Weib werden, sobald er sie dazu erwählte, ganz ohne Rücksicht, ob ihre Eltern darunter litten, sie in solcher „untergeordneten Lebensstellung“ zu sehen! Welch’ ein Glück war es unter diesen Umständen, daß Arnold Römer nach Berlin versetzt war! Vielleicht fand er dort einen Ersatz für Gertrud, und der bittere Kelch ging dann auch dieses Mal an ihnen vorüber!

„Man sollte eigentlich nicht eher Befürchtungen hegen, als bis die Ereignisse in Sicht kommen, es ist doch auch viel unnötiger Kummer, den man sich mit dem Voraussorgen macht,“ sagte sie sich oft auch wieder zum Trost. Das Zusammenleben mit Leo hatte sich doch auch verhältnismäßig besser gestaltet, als sie nach ihres Mannes und Lisbeths Briefen erwartet hatte. Er hielt sich zwar sehr zurück, versäumte aber keine Höflichkeit, und der finstere Gesichtsausdruck war einem zwar ernsten, aber auch energischen gewichen, der ihr einen gewissen hoffnungsvollen Mut einflößte. Er lag nicht mehr stundenlang unbeschäftigt in seinem Zimmer auf dem Sofa. wie in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr, sondern saß jetzt fest hinter den Büchern und arbeitete mit einer Zähigkeit, als könnte er das Versäumte nicht schnell genug nachholen. Ins Wirtshaus ging er nie, und wenn er gegen Abend das Haus verließ, so war es sicher nur, um einen Spaziergang zu machen, denn wenn er auch zuweilen länger fortblieb, so fand er sich immer wieder zur guten Zeit zu Hause ein, wie das sonst nicht bei ihm Sitte gewesen war. Wo er diese Stunden verlebte, sagte er nicht, und daß sie ihm das Lebenselixir waren, das ihm Mut und Kraft zum Ertragen der Gegenwart, Vertrauen und Glauben an sich selbst einflößte, empfand er vielleicht selbst nicht einmal klar bewußt. Aber der von Woche zu Woche intimer werdende Verkehr in der Giersbachschen Familie hatte ihn Frieden und Ruhe wiederfinden lassen, hatte ihm Selbsterkenntnis gebracht und ihn aufgerichtet, denn er sah sich von diesen vorzüglichen Menschen, die er täglich höher schätzte, geachtet und geliebt. Einmal hatte er auch daheim seiner Beziehungen zu ihnen erwähnt, als sein Vater ihn morgens am Kaffeetische nach der Ursache seines gestrigen verspäteten Heimkommens fragte.

„Ich traf beim Spaziergange den Herrn Oberst von Giersbach und der nahm mich mit nach Hause,“ sagte er, und der Geheimrat sah ihn verwundert an. Ob das wohl so stimmte? – Dann war es jedenfalls sehr merkwürdig! Er hatte nie gehört, daß Leo in der Zeit vor seinem Examen in des Obersts Familie zwanglos verkehrte, und was früher nicht gewesen war, würde jetzt gewiß nicht sein! Dem Wortlaut nach war es sicher richtig, Leo würde dem Vater keine Unwahrheit sagen, aber fraglos handelte es sich um irgend eine Geschäftslage in seinen Militärangelegenheiten, die ein Eintreten in das Arbeitszimmer des Oberst für einige Minuten zur Folge gehabt hatte! Deshalb war sicher nicht seine Heimkehr verspätet worden!

Auch die Geheimrätin meinte das Gleiche und schüttelte verständnislos den Kopf. Auf welche Thorheiten er noch verfällt, dachte sie. Sollten diese Worte nicht den Glauben erwecken, er sei im Hause des Oberst von Giersbach Gast gewesen? Als ob ihm so etwas noch jemand glauben würde! Ja, um den Verkehr mit solchen Leuten hatte er sich nun gebracht!

Ein anderes Mal ging Leo in Visitentoilette fort, und wieder war es der Vater, der ihn später nach dem Zwecke dieses Ausganges fragte.

„Ich war beim Regierungspräsidenten,“ antwortete er, „denn ich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0824.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2024)
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