verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Hedwig saß in ihrer ungeheizten Stube, die neben dem Schlafzimmer der Kinder lag, sie war nicht viel besser als ein Dienerzimmer, mit den schadhaften, billigen Tapeten, in Blau und Grau gemustert, dem winzigen Kleiderschrank, der wurmstichigen Kommode und der eisernen Bettstelle, in der rot und weiß bezogene Kissen sich breiteten. Sie sah das alles nicht, sie dachte nur daran, daß der Mensch, den sie allein liebte auf der Welt, ihr Bruder, aus sicherem Hafen wieder hinaustreiben sollte auf das Meer des Lebens, existenzlos und unfrei. Ja, wenn er als ungebundener junger Mann wieder hinaustriebe, dann wäre ihr nicht bange, aber der Ballast der mittellosen, verwöhnten Frau, mußte der die Fahrt nicht hemmen?
Sie begann ganz mechanisch ihre Sachen auszupacken, dann zögerte sie – wenn nun Heinz nicht hier bleibt in Breitenfels? Doch gleich darauf hob sie mit einer entschiedenen Bewegung den Kopf in den Nacken und errötete, sie dachte an die mutterlosen Kinder daneben, an den Mann mit den müden, bekümmerten Augen, dem sie sich freiwillig als Stütze angeboten, und hastig hing sie die Kleider in den Schrank, legte die Wäsche in die Kommode, stellte die Photographien der Mutter und Schwester darauf und kleidete sich um. Eben war sie im Begriff, das Fenster zu öffnen, damit die reine herbe Luft in den dunstigen Raum dringe, da klang ihr aus dem kalten Hauch, der hereinwehte, ein tiefer, feierlicher Ton entgegen, dem ein zweiter, noch tieferer folgte – die Glocke der Schloßkirche begann zu läuten und verkündete der Stadt und dem Lande, daß die alte Herzogin eingeschlafen sei, um nie wieder zu erwachen.
Das blasse Mädchen lehnte den Kopf an das Fensterkreuz und faltete die Hände, und unter den tiefen feierlichen Klängen ward es still in ihrem Herzen, als seien diese Töne ein Wiegenlied. So müde und abgehetzt vom Leben war sie, daß ihr dies Totengeläute zum Trost wurde. – „Einmal kommt Ruhe, einmal schläft man!“ sagte sie halblaut. Schlafen dünkte sie das Wünschenswerteste nach dem grauen sonnenlosen Tag, der das Leben für sie gewesen. An ein Weiterleben mochte sie nicht mehr glauben sie, die doch sonst so religiös war, so innig beten konnte, hatte jetzt doch nur den einen Wunsch: lasse mich einschlafen, um nie wieder zu erwachen, auch droben nicht! Meine Seele kann sich doch nicht freuen sie hat’s nie gelernt hier unten.
„Schlafen!“ sagte sie noch einmal.
Eine ganze Stunde lang läuteten die Glocken, und unter ihren Klängen suchte sie ihr Lager auf und schlief ein.
Sechs Tage später saß Hedwig Kerkow in der Wohnstube der Oberförsterei, das kleinste Mädchen neben sich auf der Fensterbank, wo es mit seinem Püppchen beschäftigt war, dem es ein schwarzes Läppchen umwickelte, denn es sollte nachher Begräbnis gespielt werden.
Hedwig war nicht viel zur Ruhe gekommen, sie hatte sich mit aller Kraft an die übernommene Aufgabe gemacht, und da gab es viel zu schaffen. An Karoline vollzog sie ihre erste Wunderkur. Aus dem Mädchen, das unter Fräulein Stübkens Leitung respektlos und eingebildet geworden, entwickelte sich im Handumdrehen eine bescheidene, folgsame Person. Das ganze Haus war einer gründlichen Reinigung unterworfen worden, vor allen Fenstern hingen neue Gardinen, die der Oberförster gern bewilligt hatte, als Hedwig ihn aufmerksam auf die nicht mehr zu verbergenden Schäden der alten machte. Hedwig hatte selbst die Auswahl treffen dürfen, und anstatt der bläulich-weißen, steifgestärkten Dinger hingen jetzt zwar billige, aber doch neue, gelblich getönte Spitzenvorhänge an den Fenstern und gaben den Zimmern ein bedeutend besseres Aussehen. Der Tisch war mittags gefällig gedeckt, sämtliches angebrochenes Service hatte Hedwig erbarmungslos kassiert, Servietten waren vollzählig vorhanden – Fräulein Stübken hatte es damit nicht so genau genommen – und Karoline trug mit weißer sauberer Schürze und gesittetem Benehmen die Suppe auf.
Die Kinder prangten in hellen Schürzen, keine Thür wurde mehr knallend zugeworfen, selbst die Herren Hunde betrugen sich besser und nahmen ihr Fressen in einem Winkel des Flurs mit demselben Appetit ein wie früher in der Wohnstube, wo es nach ihrem Diner keineswegs sehr anmutig zu riechen pflegte.
Das feine Wesen der neuen Hausdame schuf wie von selbst eine Atmosphäre von Traulichkeit.
Nur des Oberförsters Zimmer blieb unberührt. Der eimsame Mann saß da drüben nach wie vor mit seinem gekränkten Herzen, seiner Bitterkeit, in blaue Tabakswolken gehüllt und kam, wie er gesagt hatte, nur zu den Mahlzeiten herüber, und auch das bis jetzt selten genug, denn mehreremal hatte er in irgend einem Försterhause auf seinen Berufswegen gespeist und kehrte erst heim, wenn der Abend graute.
Hedwig bekümmerte sich darum nicht, bemerkte es nicht einmal. Die wenige Zeit, die ihr blieb, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, gehörte dem Bruder. Gesehen hatte sie ihn noch nicht, sie wußte nur aus ein paar flüchtigen Zeilen, die er ihr sandte, daß er mit seiner Frau sofort zurückgekehrt sei und jetzt überviel zu thun habe, um die Beisetzungsfeierlichkeiten zu ordnen. Eine Unmasse fremder Gäste werde erwartet, die halbe Residenz nehme teil.
Heute nun, um zwei Uhr, sollte die Ueberführung der Leiche in die Gruft zu Holmsrode, einer alten Breitenfels’schen Besitzung, stattfinden. – Der Gemahl der verstorbenen Herzogin ruhte dort, es war der Lieblingsplatz desselben im Leben gewesen, und die Gattin sollte seiner Bestimmung gemäß neben ihm schlafen dereinst. Der Weg nach Holmsrode war mit ein paar raschen Pferden in einer Stunde zu machen; im Schritt mit dem Leichenkondukt aber brauchte man drei Stunden, und dazu ein Januartag im funkelnden Schneegewand bei zwölf Grad Kälte!
Der ganze Platz stand voller Menschen, der Weg vom Schloß herab über denselben hinweg, der Totenweg, war mit Fahnenmasten, die man in Krepp gehüllt hatte, und von denen halbmast schwarze Wimpel wehten, eingefaßt, und auf dem festgestampften Schnee lagen Tannenzweige wie ein dichter, grüner Teppich. Zu beiden Seiten des Trauerweges hatten Soldaten Spalier gebildet, hinter ihnen schob und drängte sich die Menge.
Mitten durch dieses Gewirr wand sich ein Schlitten, zwei verschleierte und vermummte Damen saßen darin. Ein paar große Reisekörbe waren hinten auf den Kufen befestigt. Das junge Mädchen, dessen ovales feines Gesicht nur ein dünner Schleier schützte, sah weder rechts noch links, mit gesenktem Kopf fuhr sie durch die Menge.
„Das ist Fräulein May, die reist heut’ nach Dresden, will Sängerin werden,“ bemerkte Karoline wichtig, die am andern Fenster mit den beiden ältesten Kindern stand.
Hedwig sah dem Mädchen nach, bis der Schlitten um die Ecke bog. Also das war sie, die es verschmäht hatte, in diesem Hause Herrin zu sein, in welches als Dienerin einzutreten ihr als Glück erschien. Ach, das junge Geschöpf wußte wohl nicht, was es gethan! Es sollte nur erst versuchen was es heißt, als Frau sich durch die Welt zu schlagen. Eines Tags würde sie bereuen, bitter bereuen, oder aber sie war ein vollwertiges Talent, vielleicht zur wirklichen Künstlerin berufen – dann – ja dann –
In die Massen draußen kam plötzlich Bewegung. Die Glocken begannen zu läuten, im Schloßthor trat die Wache unters Gewehr. Eine Abteilung des in der Residenz garnisonierenden Jägerbataillons schritt voran, dann folgten die herzoglichen Forstbeamten , dahinter der von acht Pferden gezogene Leichenwagen, dessen schwarze, mit silbernen Fürstenkronen verzierte Sammetdecke von acht herzoglichen Förstern getragen wurde. Hinter diesem schritt der Herzog neben seinem Sohne, dem sechzehnjährigen Thronfolger, in langer Reihe folgte das vornehme Trauergeleit. Am Fuße des steilen Schloßberges stockte der Zug, der Herzog und die Herren vom Hofe sowie die Herzogin und ihre Damen bestiegen die bereitstehenden Wagen, die sich dem Zuge anschlossen.
Hedwig Kerkow glaubte, in einer der vorderen Eguipagen ihre Schwägerin, in einer andern ihren Bruder erkannt zu haben.
„Jesus, meine Zuversicht,“ spielte die Musik; der Kondukt setzte sich in Bewegung, in der Richtung nach dem Gebirge, dessen Wälder das stille Schloß bargen, in dessen Begräbnisstätte die Tote ruhen sollte.
Breitenfels war aus der Reihe der bewohnten Schlösser gestrichen, es begann seinen Schlaf, wie so viele herrliche Burgen aus alter Zeit. In kurzer Frist würden in den Gemächern der
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_170.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)