verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
|
gewollt. Das offenbar schwer leidende Kind war sorgsam mit Decken und Kissen gestützt und eingehüllt, ein geöffnetes Bilderbuch lag auf dem Tischchen zur Seite des kleinen Gefährts neben einem Glase Milch, das noch unberührt stand. Weiter zurück saß auf dem eisernen Gartenstuhl ein Herr vor der Staffelei und malte, oder hatte gemalt, denn die Hand, in der er die Palette hielt, lag auf seinem Knie, der rechte Arm hing schlaff herunter der Pinsel war zur Erde gefallen. Wie geblendet starrte der Mann hinein in den Zauber dieses Lenzabends.
Der Schloßhauptmann von Kerkow war noch ein junger Mann, aber die fünf Jahre, die er seines Amtes hier oben gewaltet, mußten schwere harte Jahre gewesen sein. Er war mager und schmal geworden, auf der Stirn hatten sich ein paar tiefe Falten gebildet und die Augen blickten müde, so müde wie die eines Menschen, der nichts mehr hofft, der abgeschlossen hat mit dem Leben und nur noch bemüht ist, es mit möglichst guter Haltung weiter zu tragen.
„Papa!“ rief das Kind ängstlich.
„Gleich, mein Junge!“ rief er aufspringend, und die Palette auf den Stuhl legend, stand er im nächsten Augenblick schon an dem Lager und beugte sich mit besorgtem Ausdruck zu dem kleinen Kranken nieder.
Das Kind beruhigte sich sofort und blickte ihn freundlich an. „Läuten? – warum?“ sagte es mühsam.
„Morgen ist ein Feiertag“, erklärte er, seinen Stuhl herbeiholend und neben dem Kinde Platz nehmend, indem er das magere Händchen streichelte. „Morgen ist Pfingsten, Heini.“
„Da fährt Mama aus?“
Heinz Kerkow nickte seinem Sohne zu, ein finsterer Zug verdrängte einen Augenblick seine Freundlichkeit. „Ja, mein Junge, sie wird wohl ausfahren.“
„Du auch?“
„Soll ich, Heini?“
Um den Kindesmund zuckte es schmerzlich. „Nein, nein!“ flehte er, „ich habe immer Angst, wenn ich so allein bin.“
„Ich bleibe bei dir, Schatz, weine nicht,“ tröstete der Vater. „Wir erzählen uns schöne Geschichten und nachmittags fahre ich dich in den Park hinein – oder willst du zu Tante Hede?“
„Nein, bei dir bleiben – die Kinder sind so unartig.“
„Nicht unartig, Heini, sie sind wild und toben umher, und das sollst du, so Gott will, auch wieder lernen, kleiner Stift.“
Das Kind schüttelte den Kopf. „Ich lern’s nicht, Papa!“
„Oho! Woher weißt du das?“
„Mama hat’s gesagt zu Tante Gruber – Papa.“
„Aber du närrisches Kind, du hast ganz falsch verstanden.“
„Nein – Mama hat gesagt. er ist ein Krüppel und bleibt ein Krüppel, und alle die Quälerei und Quacksalberei nützt nichts – hat sie gesagt.“
Ueber Heinz Kerkows Gesicht ging eine fahle Blässe. „Da hat Mama dich nicht gemeint, mein Herzblatt; du mußt nicht alles auf dich beziehen und nicht so achten auf das, was die Großen sprechen – hörst du?“
„Ich will mich aber nicht mehr quälen lassen mit der Maschine,“ beharrte das Kind.
„Wenn du deinen Papa lieb hast, Heini, dann läßt du dich noch ein bißchen quälen.“
Das Kind schwieg. Es lag etwas in seinem abgemagerten Antlitz, das weit über seine Jahre hinausging, ein Hauch bitterster Erkenntnis seines Zustandes. Heinz saß daneben und kämpfte mit seinem großen Schmerz um dieses armselige Geschöpfchen, das sein Sohn war, mit dem Zorn über die Gefühllosigkeit der Frau, die dieses Kind zur Welt gebracht, ein zartes aber gesundes Kind, das durch die Schuld der Mutter zu dem geworden, was es jetzt war.
Er ist ein Krüppel, er wird ein Krüppel bleiben! klang es in ihm. Ach Gott, so entsagungsreich, so arm sein Leben auch war in diesem verschollenen Winkel, er würde es mit Freuden weiterleben, wäre der Junge gesund neben ihm hergesprungen durch die hallenden öden Gänge des Schlosses, durch die einsamen Wege des Parkes – aber so, ach so! – –
Er war mit keinerlei Illusionen in diese Ehe gegangen, aber daß sie so öde werden würde, wie sie thatsächlich geworden, das hatte er doch nicht gedacht. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine Frau zu bewegen, an irgend etwas teilzunehmen, das ihn interessierte, wie er sich ehrlich Mühe gab, ihrem Ideenkreise näherzutreten. Er fuhr Visiten mit ihr in der ganzen Umgegend, er empfing ihre Gäste, die ihm unendlich gleichgültig waren und vor denen er sich schämte mit dem „Fünfuhrthee“, welchen Toni in Erwiderung von lukullischen Diners und Soupers zu veranstalten pflegte. Er war der Ansicht, nichts annehmen zu sollen, was man nicht erwidern könne – Toni stand auf einem erhabeneren Standpunkt. „Ich gehe nicht Essens und Trinkens halber in die Gesellschaft“, pflegte sie zu sagen. Seine Gegenvorstellungen, daß es doch immerhin und unbeschadet dieser idealen Ansicht etwas unbescheiden sei, Leute drei Meilen und mehr über Land fahren zu lassen, um sie mit einer winzig kleinen Tasse Thee und einigem leichten Gebäck abzuspeisen, ließ sie nicht gelten; mehr erlaubten eben ihre Mittel nicht! Und ohne Geselligkeit könnte sie nicht leben!
Trotzdem sah sich in Kerkows Haushalt alles ganz stattlich an. Der Diener und Kutscher servierten; sie standen, wie Pferd und Wagen, im herzoglichen Dienst und waren dem Schloßhauptmann zur Benutzung gestattet. Die Einrichtung der Zimmer, das Service erschienen elegant, das Silberzeug, ein Geschenk der verstorbenen Herzogin, ebenfalls, und so behauptete sich Toni wirklich ganz ansehnlich.
Heinz beschwichtigte auch das heulende Mädchen, die Jungfer und Köchin in Eins vorstellte, wenn ihr die Gnädige in zorniger Aufwallung gekündigt harte. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte alle vierzehn Tage gewechselt. Ach, und die Tage dehnten sich, als wären die Stunden mit Blei beschwert! Wenn er früh seine paar Unterschriften vollzogen, mit irgend einem Handwerker geredet, den er wegen irgend einer Verbesserung oder Reparatur bestellt hatte, über die zu berichten ihm oblag. Wenn der Obergärtner pro forma dagewesen war und Rechnung gelegt hatte über seine Wochensendungen an die herzogliche Küche und über den Verkauf aus den Treibhäusern, wenn der Bibliothekar ihn zum hundertstenmal gebeten hatte, bei Hoheit wegen Ankaufs dieses oder jenes Werkes vorstellig zu werden, ein Bemühen, das er längst aufgegeben hatte, weil der Herzog stets einfach ablehnte, dann war sein Tagewerk gethan. Er hatte Muße, die Zeitung in einer Ruhe zu lesen, wie sie wenig Menschen vergönnt ist, im Winter oder an trüben regnerischen Tagen im Erker, im Sommer auf der Terrasse, die für das Publikum neuerdings abgesperrt worden, aber wenn er sich noch so sehr Zeit nahm, es blieb immer noch zu viel dieses kostbaren Orakels übrig. Was hatte er nicht alles gethan, um sie rascher vergehen zu machen! Er hatte gemalt, alte Bilder kopiert aus den Sälen des Schlosses, dann, als ihm das über geworden, da er ja doch nichts anderes war als ein halbwegs anständiger Dilettant, hatte er es mit der Blumen und Obstbaumzucht versucht, hatte den Oberförster eine Zeit lang eifrig auf die Jagd begleitet, aber alles ohne innere Befriedigung dabei zu finden.
Er wäre wohl auf diese Weise im Nichtsthun verkommen, wenn sein Geist nicht durch einen Zufall aufgerüttelt worden wäre. Der Bibliothekar wurde an eine andere herzogliche Bibliothek versetzt und die Bücherei von Breitenfels der Obhut des Schloßhauptmanns anvertraut. Der nicht unbedeutende Schatz an Werken und Kupfersachen, den einst ein ernster, den Wissenschaften ergebener Fürst gesammelt hatte, sollte aber öffentlichen Zwecken nicht dienen, er sollte vorläufig in Breitenfels stehen bleiben, bis man ihn der Bibliothek in der Residenz einverleibte. Heinz von Kerkow hatte nur die Schlüssel von den Zimmern zu bewahren und zuzusehen, daß die Bücher und Folianten nicht vermoderten.
So mußte er öfter durch die stillen Räume wandern, nun reizte ihn dieses und jenes Bild, der Titel dieses und jenes Buches, er blätterte darin er begann zu lesen. Geschichte und Kulturgeschichte, seine alten Lieblingsfächer, fesselten ihn von neuem, und er begann, ohne es zu merken, ernste Studien zu treiben, sich in den Geist vergangener Epochen zu vertiefen.
Ging er jetzt auf die Jagd, schritt er allein durch die tiefen Wälder, rastete er für sich, nur von dem treuen Hunde begleitet, auf stillen einsamen Höhen, das bunte Gewoge der herbstlich gefärbten Wipfel der Waldbäume zu seinen Füßen, dann vergaß er die Gegenwart, seine öde Lage, dann lebte in seinem Geiste eine andere Welt auf. Da zogen geharnischte Ritter in den
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_182.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)