verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
|
So auch jetzt. Als der Referendar den ganz ernst gemeinten, freundlichen Vorschlag machte „Soll ich dir ein neues Tagebuch schenken?“ erwiderte Lotte nur rasch und ungezogen. „Wohl von deinen Schulden?“
„Lotte!“ ermahnte die Mutter strafend.
„Nein – ernstlich!“ sagte der Vetter milde. „unter einer Bedingung schenke ich dir ein unsagbar schönes, neues Tagebuch –“
„Und die wäre?“ frug Lotte rasch und lebhaft.
„Daß du mich das alte lesen läßt!“ erwiderte der Dickus so obenhin, als wenn er die schaurige, unermeßliche Größe seines Verlangens nicht ’mal ahnte!
Lotte saß einen Augenblick sprachlos. Dann maß sie den Kühnen mit einem Blick voll wahrhaft erhabener Verachtung.
„Dich??“ frug sie endlich niederschmetternd und in der Haltung einer Tragödin, „dir ist wohl nicht ganz richtig im Oberstübchen!“
Der Vetter lächelte kühl. „Wenn du nicht willst, dann läßt du’s natürlich bleiben, sagte er, „ich will nur sagen, daß ich ein prachtvolles Tagebuch gesehen habe – dunkelblaues Leder, weich, wie Butter – extra verschnitztes Schloß, Goldschnitt, Papier so dick wie dein kleiner Finger – kurz – einfach großartig!“
Lotte sah ihn flehend an – sie litt sichtlich alle Qualen des hochseligen Tantalus. „Aber für nichts wird nichts gereicht!“ schloß der Dickus und erhob sich gleichzeitig mit den Eltern von der Mittagstafel, „Buch gegen Buch – Verschwiegenheit Ehrensache – na? wie ist’s, Lotte?“
„Ich werde dir was –“ erwiderte der Backfisch mit zornig blitzenden Augen und ließ den freundlichen Anerbieter mit dieser geheimnisvollen Drohung stehen.
An diesem Abend schrieb sie in ihr Tagebuch. „Der Dickus wollte dich lesen, geliebtes Tagebuch, – eher werfe ich dich doch ins Meer, wo es am tiefsten ist!“ ein Unternehmen, welches sich, nebenbei gesagt, etwas mühselig hätte ins Werk setzen lassen, da Lottes Wohnort etwa zweihundert Meilen weit von jeglichem Meere entfernt lag.
Der Dickus eröffnete übrigens mit diesem Tage einen systematischen Feldzug gegen das Tagebuch.
Er schlich sich hinter die Besitzerin, wenn sie darin schrieb, und las ihr ein Wort laut und mit gemacht empfindsamer Betonung über die Schulter vor, wobei es ihm königliches Vergnügen zu bereiten schien, wenn die sittsame Jungfrau wie eine Wildkatze gegen ihn ansprang und ihm beinahe die Augen auskratzte.
Er fand das Tagebuch einmal – allerdings verschlossen – im Wohnzimmer und war so gemein, sich darauf zu setzen, so daß Lotte, weinend vor ohnmächtigem Zorn, nichts übrig blieb, als den Bruder mit einer Tafel Chokolade zu bestechen und mit ihm in Gemeinschaft den Dickus vierhändig mit dem Stuhl umzukippen, wobei dieser – das heißt der Stuhl – eines Beines und die beiden Verbrecher für den Rest des Tages jedes väterlichen Wohlwollens verlustig gingen – ein Umstand, der sich recht betrübend und fühlbar äußerte.
Inzwischen schien niemand der armen kleinen Memoirenschreiberin zu einem zweiten Bande verhelfen zu wollen. Sie sann Tag und Nacht auf Möglichkeiten und Erwerbsquellen, sie versuchte sich sogar anderweitig als im Tagebuch schriftstellerisch und produzierte eine „Novelle“ unter dem Titel „Erstorbenes Glück“. In diesem Meisterwerk starben alle Mitwirkenden wie die Fliegen – der eine wurde sogar als „knieende Leiche“ nach einem vermutlich zu strapaziösen Fußfalle vorgeführt, hätte demgemäß schon als naturhistorisches Phänomen auf das Interesse der Lesewelt die gerechtesten Ansprüche gehabt. Sie that denn auch in aller Stille die nötigen Schritte, um es der Oeffentlichkeit zu übermitteln. Aber das wertvolle Dichterwerk kam zweimal zurück – ohne jegliches Begleitschreiben, was darauf zu deuten schien, daß der betreffende Redakteur wortlos vor Empörung über die ihm gestellte Zumutung gewesen war – und es ein drittes Mal sich auf den Wogen der Oeffentlichkeit schaukeln zu lassen, dazu fehlte es der geschätzten Verfasserin an dem nötigsten Erfordernis, nämlich an zwei Briefmarken.
So blieb ihr auch dieser sonst so einfache Weg, zu Gelde zu gelangen, versagt, und sie mußte auf anderes denken.
Der Vetter blieb bei seiner Bedingung, war also ausgeschlossen – der Vater erklärte mit verletzender Derbheit die ganze Tagebuchschreiberei für hellen Blödsinn, und die Mutter erbot sich als höchsten Beweis des Mitgefühls, ein Diarium mit festem Deckel zu stiften. Dieser entweihende Vorschlag konnte auch nicht angenommen werden, wie jeder Verständige einsehen wird – kurz, die Sachlage wurde immer schwieriger.
Lotte, die sich somit vor die schreckliche Möglichkeit gestellt sah, ihre Gefühle und Gedanken unbestimmte Zeiträume hindurch für sich behalten zu müssen, griff zu einem letztem verzweifelten Mittel. Sie schrieb dem erwähnten Onkel, dem großmütigen Spender des ersten Bandes, einen scheinbar ganz unbefangenen Brief. Dies geschah sonst nur zu Neujahr und Geburtstagen, meist als Quittung für dankend erhaltene Gaben, und noch dazu öfter unter Aechzen und Murren, da der Onkel gerade Zeilen und anständige Schrift zu verlangen so anspruchsvoll war.
Heute nun wurde dies gern befolgt – die Korrespondentin teilte dem geschätzten Anverwandten zunächst allerlei interessante Ereignisse aus ihrem Leben mit – daß sie vor vierzehn Tagen einen toten Maulwurf gefunden habe – und daß sie jetzt unter Wasser schwimmen könnte – daher ganz geeignet schiene, eine tüchtige Stütze im Haushalt zu werden! Diesen so ganz selbstlosen Brief schloß unser Lottchen mit der leicht und geschickt hingeworfenen Mitteilung. „Mein Tagebuch ist übrigens bald voll – ein so schönes werde ich wohl nie wieder bekommen!“
Als das Schreiben, natürlich eigenhändig besorgt, in dem breiten, blauen Maul des Briefkastens verschwunden war, überkam die Verfasserin allerdings leichte Gewissensunruhe, ob ihres Zaunspfahlverfahrens und sie verkündete ihre Unthat bei Tisch mit einigem Erröten. Dazu geschah diese Veröffentlichung noch in Gegenwart des Dickus, der heute seinen bösesten Necktag und schon beim Eintreten in die Stube die Frechheit gehabt hatte, sich nach Lotte mit der eleganten Wendung zu erkundigen: „Nun, wo ist denn das corpus delicti?“, was seine Gegnerin beim Hinzukommen gerade noch hörte.
Der Dickus konnte sich also auch natürlich nicht einige höhnische Bemerkungen versagen und versicherte aus vollstem Herzen, der Onkel werde sich, seiner Ueberzeugung nach, hüten, auf eine so unbescheidene Anzapfung irgendwie zu reagieren – ein plumper Angriff, gegen den Lotte die seine Verteidigung zu finden wußte: „Jeder ist nicht so ein Ruppsack wie du!“
Anscheinend hatte der Backfisch aber größere Menschenkenntnis als der Dickus, trotz juristischer Studien und glänzender Examina. Denn acht Tage waren noch nicht nach Absendung des Briefes vergangen, als die Post eines Morgens der bis zu Thränen beseligten Lotte ein Paketchen brachte.
Der Absender war ungenannt, das Päckchen aber aus dem Wohnort des Onkels abgestempelt. Es enthielt das schönste Tagebuch, welches jemals eine Schülerin der ersten Klasse in ihren beglückten Händen gehalten.
Lotte durchwanderte das ganze Haus vom Keller bis zum Boden, um ihr neues Kleinod zu zeigen, verwahrte sich mit Entsetzen gegen den wohlgemeinten Vorschlag der Mutter: „Das werde ich dir bis nach deiner Einsegnung aufheben, das ist viel zu schön zum Vollschmieren’ – und trug das Buch den ganzen Tag mit sich herum. Ja, sie war infolge des frohen Ereignisses so menschenlieb gestimmt, daß sie dem Dickus, der zu Tisch kam, bis in den Vorsaal entgegenlief, um auch ihm ihren Schatz zu zeigen.
Ackerdings konnte sie sich seiner laut und lebhaft geäußerten Ueberraschung und Bewunderung gegenüber den triumphierenden Zusatz nicht versagen. „Siehst du! und der hat nichts dafür von mir verlangt – nimm dir für ein andermal ein Beispiel daran!“
„Was kommt denn auf die erste Seite?“ frug der Dickus mit Interesse, während er seinen Ueberzieher ablegte.
„Das kann dir ganz Wurst sein!“ erwiderte Lotte formvoll, „du brauchst dich überhaupt nicht um mein Tagebuch zu kümmern! Schreibe selber eins, wenn du es so gern lesen willst!“
Der Dickus nahm die Sprecherin bei beiden Händen und hielt sie, wie im Schraubstock, fest. „Lotte, ich warne dich!“ sagte er und sah auf einmal ganz ernsthaft aus seinen fidelen Augen, „wenn du mich noch lange so schlecht behandelst, räche ich mich ’mal furchtbar! Ich kann nämlich sehr unangenehm werden – das ist so ein kleines geselliges Talent von mir! Versuche es doch abwechslungshalber ’mal, liebenswürdiger gegen mich zu sein – wer weiß, wie ich dann bin!“
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_231.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)