verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Die nächste Zeit brachte ihm Mühe und Arbeit überreichlich, so daß er wenig zur Besinnung kam. Es war ihm recht so, wohin führte das viele Grübeln und Brüten? Es geschah ihm aber doch oft, daß bei ganz unerwarteten Anlässen, in Gesellschaft der gleichgültigsten Menschen, plötzlich das reizende Blondköpfchen seiner Nichte mit einer so greifbaren Deutlichkeit vor ihm auftauchte, daß er meinte, es mit Händen greifen zu können. Er sprach mit irgend einem Händler über die Kornpreise, er ging mit den Herren von der Hagelkommission durch die Felder, um den Schaden den das letzte Unwetter angerichtet hatte, zu besichtigen; er ließ sich ein neues Pferd vorführen – alles das waren doch wahrlich keine Gelegenheiten, die für Liebesgedanken günstig waren – aber, günstig oder nicht, das verlockende Bild war da und ließ sich nicht verscheuchen.
So ging der Rest des Sommers, ging der Herbst hin, kam der Winter ins Land. Das war ein gestrenger Herr diesmal, und er machte den alten Spruch, daß strenge Herren nicht lange regieren, gänzlich zu schanden. Er türmte weiße hohe Wälle um Häuser und Hütten auf, ließ das Sternenheer in goldfunkelnder Pracht am nachtschwarzen Himmel erscheinen, hing klirrende Eiszapfen an Dächer und Bäume und wandelte den Atem der frierenden Menschheit in Reif. Leo Gräfenberg hatte solchen Winter seit Jahren nicht mehr erlebt; er fuhr, in seine Wildschur gewickelt, Tag für Tag durch den verschneiten Wald, der wie ein weißer Feenpalast dastand, und er hätte seine Freude an dem schönen Anblick gehabt, wenn ihm nicht bei seiner Rückkehr sein Haus gar so öde und verlassen erschienen wäre. Die Stiefmutter hatte, eines hartnäckigen Hustens wegen, nach dem Süden gehen müssen, so schritt er denn gesenkten Hauptes von einem dunklen Gemach ins andere, bis er sich zuletzt in seinem Arbeitszimmer vor das rotflammende Kaminfeuer setzte und sich ausdachte, wie entzückend es sein müßte, jetzt eine junge, liebliche Hausfrau sich gegenüber zu haben, der er vorlesen, zu der er sprechen könnte. Ja, ihr würde er alle seine Gedanken, all’ die Ideen und Pläne, die er hatte, sagen können, würde ihr von seiner Kinderzeit von seiner Jugend erzählen – guter Gott, wie weit, weit das alles hinter ihm lag! – würde sie um Rat fragen, alles mit ihr teilen … Prasselnd sanken die Holzscheite zusammen – ein Funkenregen stob knisternd aufwärts – die rote Glut erblich – kalt schauerte es über den einsamen Träumer hin.
An einem schneidend kalten Märztag war’s – von Frühling noch immer nicht die leiseste Spur! – da langte ein Brief an Herrn Rittergutsbesitzer Leo Gräfenberg auf Grünholm an, mit seines Schwagers Trautwein Handschrift. Besagter Herr war ein Feind alles Briefschreibens, es mußte mithin etwas wichtiges sein.
„Lieber Zigeuner! In dieser lieblichen Jahreszeit, wo alles fußhoch voll Schnee liegt, kann es für Dich auf dem Lande schlechterdings nichts zu thun geben. Dagegen giebt es das hier für Dich ganz entschieden. Thu mir den Gefallen, setz’ Dich auf und komm’ hierher, Du leistest mir einen veritablen Dienst damit, und es ist das erstemal, daß ich Dich drum bitte. Wenn Du fragen willst, ob die Sache sich nicht schriftlich erledigen läßt, so sag’ ich Dir: nein! Du mußt schon so gut sein, Dich in Person herzubemühen! Frau und Kinder würden grüßen lassen, wenn sie wüßten, daß ich an Dich schreibe.
Also ich erwarte Dich in kürzester Frist hier. Du kannst bei uns wohnen. Gott befohlen!
„Der gute Gustav wird irgend eine ungeheure Dummheit gemacht haben, die ich ihm helfen soll, in aller Stille in Ordnung zu bringen!“ dachte Leo Gräfenberg, als er vorstehenden Brief gelesen hatte. „Er ist zwar bis jetzt ein vorsichtiger Geschäftsmann gewesen und ich habe immer gedacht, er hätte sein Schäfchen längst im Trockenen. Aber wer kann wissen, was der Mensch angestellt hat, während ich in Amerika und in England saß. Die klügsten Leute können ’mal hereinfallen, gewiß steckt eine böse Wechselreiterei dahinter und ich soll ihm heraushelfen, soll Hypotheken auf Grünholm aufnehmen oder sonst wie beispringen. Frau und Kinder wissen von nichts – das ist schon ein Indicium! Kommt mir zwar nicht sehr gelegen, weil ich doch all’ die großen Reformen ins Werk setzen will: Wiesendrainierung, Hopfenplantage, Kanalbauten – aber, er ist mein Schwager. ’s ist auch wirklich die erste Bitte, die er in diesen zwanzig Jahren an mich richtet – und vor allem: ist er nicht Leonies Vater?
Ich muß suchen, meine Hände einigermaßen frei zu bekommen und dann soll er haben, was er sich wünscht!
Nach diesem Entschluß nahm Leo einen Briefbogen schrieb die umfassende Mitteilung darauf. „Ich werde morgen vormittag gegen zwölf Uhr bei Dir sein!“ und ließ sich im Schlitten zur nächsten Kreisstadt kutschieren, von wo er noch des Abends mit dem Schnellzug abdampfte. Der Empfang bei seinem Schwager bestätigte seine Voraussetzungen. Das Hausmädchen, offenbar instruiert, half ihm ablegen und führte ihn direkt in das Zimmer ihres Herrn, der ihm mit ausgestreckter Hand entgegenkam.
„Wir sind ganz allein, Zigeuner! Hab’ Dank, daß du gekommen bist. Meine beiden Frauensleute hab’ ich weggeschickt, sie bleiben ’n paar Stunden fort, und die Jungens sind bis nach eins in der Schule! – Cigarre gefällig?“
Leo acceptierte und schnitt mit seinem kleinen Messer das Köpfchen von der Cigarre so subtil und behutsam herunter, als vollzöge er eine schwierige Operation.
„Du kannst mir lieber gleich sagen,“ bemerkte er, immer noch die Augen gesenkt, „wieviel du haben mußt!“
„Wieviel ich haben muß?“ fragte der Schwager zurück, im Ton äußerster Verständnislosigkeit.
„Ja, denn ich werde doch eine Hypothek aufnehmen müssen, weil ich für meine eigenen Pläne augenblicklich ziemlich stark engagiert bin!“
Es herrschte ein Weilchen tiefe Stille im Zimmer. Offenbar versuchte der Rechtsanwalt, irgend einen Sinn aus Leos Bemerkung herauszufinden.
„Sag’ ’mal,“ bemerkte er endlich, „es ist wohl scheußlich kalt da oben bei dir in Grünholm?“
„Ja, gewiß, aber was …“
„Und du hast dir bei all’ der Kälte mittlerweile einen kleinen sogenannten Knack zugelegt, wie?“
„Erlaube, lieber Schwager, du bist –“
„Erlaube du mir zunächst ’mal. Was in aller Welt vermutest du, das ich von dir haben will?“
Leo stockte einen Augenblick. „Geld!“ sagte er endlich in resolutem Ton.
„Geld?“ Des Schwagers Gesicht spiegelte das äußerste Erstaunen wieder.
„Herrgott, ja! Ist denn das etwas so Unerhörtes?“ Der andere fing an, ärgerlich zu werden. „Es kann doch vorkommen, daß ein sonst ganz vernünftiger Mensch ’mal eine – eine Thorheit macht – spekuliert oder so etwas –“
„Hm! Und weswegen hätt’ ich Frau und Kinder wohl expreß ferngehalten?“
„Ich dachte, es wär’ dir peinlich, und sie sollten davon nichts wissen.“
„Da hast du gründlich vorbei gedacht, lieber Zigeuner! Aber gründlich! Ich werde mich auf meine alten Tage auf solchen hellen Blödsinn einlassen und meine paar Kröten, die ich als guter Familienvater zurückgelegt habe, verspekulieren!“
„Ja, es kam mir auch unwahrscheinlich vor! Aber ich konnte mir absolut keinen andern Vers darauf wachen, weshalb du mich so plötzlich –“
„Herbeicitiertest, meinst du! Lieber Freund und Schwager, kam dir keine Minute lang der Gedanke, es könnte eine wichtige – Familienangelegenheit sein, die ich mit dir durchsprechen wollte?“
„Nein!“ sagte Leo unwillig. „Du hast so lange deine Familienangelegenheiten allein besorgt, daß ich nicht darauf verfiel, du könntest plötzlich meine Mitwirkung dabei erwarten!“
„Laß dir ein Glas Sherry eingießen, alter Sohn und sieh gefälligst nicht so giftig aus, als ob du mich fressen wolltest! Es war mir in allem Ernst drum zu thun, mit dir zu reden –“
„Und das konnte nicht auf schriftlichem Wege –“
Der Rechtsanwalt wehrte mit beiden Händen ab. „Gott straf’ mich – nein! Wenn ich mir ausdenke, ich hätte sollen ein halb’ Dutzend ausführliche Briefe in der Sache schreiben und ebensoviel mindestens von dir lesen, dann bricht mir der kalte Angstschweiß aus! Nein, lieber ließ ich dich schon hierher reisen!“
„Jawohl, ich dank dir ergebend. Möchtest du jetzt vielleicht die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, um was oder um wen sich’s eigentlich handelt?“
„Gewiß will ich. Es handelt sich um meine Tochter Leonie!“
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_319.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)