verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Leo Gräfenberg rückte unruhig seinen Stuhl herum. „Was ist’s denn mit ihr?“
„Ach, was soll sein? Verrückt ist sie geworden!“
Der Zuhörer fuhr empor. „Du willst doch nicht sagen –“
„Daß ich sie ins Narrenhaus stecken muß? Gott sei Dank, nein, obgleich sie leider in gewisser Hinsicht reif dafür wäre! Na, um vernünftig zu reden, Zigeuner. Wir haben Zeiten und Scenen mit dem Mädel durchgemacht und sie hat uns einen Tanz aufgespielt, daß mir und meiner Frau Hören und Sehen vergangen ist!“
„Um Gottes willen! Sie ist doch nicht etwa ernstlich krank?“
„Körperlich so gesund wie ich und du, im Kopf ist bei dem sonst so prächtigen Geschöpf ’ne Schraube los, das laß ich mir nicht nehmen. Ich bin ja der Vater, aber schließlich hat man doch auch seine Augen im Kopf und weiß, was hübsch und was häßlich ist. Na, daß meine Leonie sehr hübsch ist, beinahe schon mehr als das, kann ich doch nicht leugnen, will es auch nicht! Andere Leute finden’s ja auch! Partien haben sich ihr schon geboten – du wirst bloß von dem einen Gutsbesitzer da oben bei euch wissen – aber auch hier –“
„Ich glaube schon!“ Leo ballte vor Ungeduld die Hände. „Aber inwiefern –“
„Ich komme schon zur Sache. Du kannst dir denken, daß wir, Käthe und ich, das Kind zu nichts überreden wollen – schließlich aber ist’s doch unsere Pflicht, die Sache mit ihr durchzusprechen, das Für und Wider abzuwägen, ihr die sich bietenden Vorteile klarzumachen. Kurz, das hat des öfteren geschehen müssen, und da erklärt sie uns denn eines schönen Tages kurz und bündig, sie gedenke überhaupt nicht zu heiraten. Solche Schrullen kommen bei jedem Mädel ’mal vor, wirst du sagen, und darauf ist nichts zu geben. Schön! Wir sagten das auch! Aber nun kommt sie mit dem Schlagwort der Zeit. Sie will sich nützlich machen, sie schämt sich, so im Hause bei uns als Zierrat herumzusitzen, das sei vergeudete Kraft, die brach liege, anstatt zum Wohl der Menschheit beizutragen, und was sie da sonst jetzt alles reden und drucken, was so auch seine Berechtigung hat bei vielen, ich geb’ das zu! Aber nun unsere Leonie – einzige Tochter – und neunzehn Jahre – mit dem Gesicht!! Meine Frau und ich setzten denn nun alle Segel der Beredsamkeit bei, namentlich Käthe, und du weißt, Zigeuner, was die in dem Punkt leisten kann! Wir wollten sie im Hause anspannen, sie sollte den Jungens bei den Arbeiten nachhelfen, sie sollte kochen, sollte meinetwegen bei meinen Schreibereien helfen, wir wollten ihr die Zeit schon vertreiben! Meinst du, das machte Eindruck? Keine Spur! Das wären alles bloß kleine Mittelchen, dabei käme nichts Vernünftiges heraus, wir wären zu gut mit ihr, wollten sie immer verwöhnen und schonen, sie aber wolle ihre Kraft bethätigen. Das Ende vom Lied war – sie will Krankenpflegerin werden, Diakonissin, in allem Ernst, und ist schon hingegangen, hat sich vorgestellt und ist zur Prüfung angenommen worden, und in drei vier Tagen soll’s losgehen. Was sagst du nun?“
Leo sagte kein Wort. Er saß nur da und starrte den Schwager an wie vor den Kopf geschlagen.
„Du bist ganz baff, seh’ ich! Na, das waren wir auch! Soll man sein Kind, ein bildhübsches zartes, feines Geschöpf, groß ziehen und durch neunzehn Jahre seine Freude dran haben und die schönsten Zukunftspläne schmieden … und dann tritt das vor dich hin und sagt dir, es will Krankenpflegerin werden! Und nicht etwa zeitweise, so und so lange im Jahr, nein, ein für allemal, also für uns wär’ sie verloren! Wir haben nochmals alles drangesetzt, Käthe mit Thränen und Bitten, ich mit Drohungen – ich sag’ dir, ich hab’ nicht schlecht gewettert, und nie in meinem Leben hätt’ ich mir’s träumen lassen, ich würde zu meinem Mädel ’mal solche Sprache führen müssen! Am Ende, da sie noch nicht mündig ist, hab’ ich’s ihr direkt verboten, aber das war erst recht Oel ins Feuer gegossen. Sie lasse es drauf ankommen, und sie werde es abwarten! Alles ganz gelassen und ganz ruhig, aber mit einem Ton und mit einem Paar Augen im Kopf, in denen zu lesen stand. In zwei Jahren bin ich doch eingekleidet!“
Der Rechtsanwalt seufzte tief auf und schwieg, es wunderte ihn auch nicht, daß sein Schwager ebenfalls schwieg. Er kannte ihn, seine Gedanken arbeiteten langsam, er mußte erst eine geraume Zeit alles in sich verwinden, ehe er sprach oder gar handelte.
Endlich brach Leo doch das Schweigen und sagte, aus seinem Sinnen heraus, mit halber Stimme, als wenn er einen Schlafenden zu wecken fürchtete:
„Und – und – was meinst du nun, daß ich – gerade ich …“
Der Rechtsanwalt rückte seinen Stuhl näher heran und legte seine Hand vertraulich auf das Knie des vor ihm Sitzenden.
„Die eigentliche Idee stammt von Käthe, aber ich für meine Person hab’ nicht umhin gekonnt, ihr beizustimmen. Sieh, lieber Zigeuner, du hast das Mädel, unsere Leonie, ’mal, als sie noch Kind war, sehr lieb gehabt, ich glaube, mehr als uns andere alle zusammen. Warum du dir jetzt nicht mehr so viel aus ihr machst, das weiß ich nicht, und Käthe weiß es auch nicht. Vielleicht hast du mehr von ihr erwartet, so oder so – mit einem Wort, wir wissen das nicht. Aber schließlich stehst du unserem Hause sehr nahe und das Mädel selber hielt immer große Stücke auf dich. Besinn’ dich nur, das erste Wort, was sie sprechen lernte, war ‚Onkel Zigeuner’ – sie konnte gefallen sein, so schwer sie wollte, und du nahmst sie auf den Arm, so war sie sofort still – immer nannte sie dich in ihrem Abendgebet zuerst, sie pflegte zu sagen, du kämest gleich hinter dem lieben Gott. Du weißt das alles vielleicht gar nicht mehr so genau?“
„Doch – – ich weiß es noch!“ Leos Atem ging schwer, seine schwarzen Brauen hatten sich über den Augen ganz zusammengezogen.
„Weißt es noch! Ist mir lieb! Und wie du nun übers Meer gingst – dir schien ja der Abschied nicht sonderlich schwer zu fallen –“ der Redner machte eine Pause und wartete, ob Leo etwas sagen würde.
„Das Kind aber,“ fuhr der Rechtsanwalt fort, da nichts erfolgte, „nahm die Sache nicht so leicht. Käthe sagt, sie hat sie oft in der Nacht in ihrem Ställchen bitterlich schluchzen gehört, auch hat sie in aller Stille beobachtet, daß sie einen heimlichen Kultus mit allerlei Dingen trieb, die irgendwie mit dir im Zusammenhang standen, sie hat da so dies und das, Kleinigkeiten waren es natürlich, beiseite gebracht und in ihrem Zimmer verwahrt. Käthe ist dahinter gekommen, hat aber gethan, als merkte sie nichts. Also hat die Kleine für dich so ’ne Art Schwärmerei gehabt, an der gewiß viel echtes Gefühl beteiligt gewesen ist. Da dachten wir nun, Käthe und ich, wenn du ’mal deutlich mit ihr reden möchtest, so gewissermaßen als letzte Instanz …“
„Ich?“
„Ja, du! Wenn ich dir das geschrieben hätte, würdest du dich wie ’n Aal aus der Geschichte herausgeschlängelt haben! Ich kenne meinen Zigeuner! Dir muß man allemal die Pistole auf die Brust setzen, wenn man dich zu etwas heran haben will. Um alter Zeiten willen und weil sie ’mal früher dein Liebling, dein Herzensliebling’ gewesen ist – ja, wohin denn?“
Leo war aufgestanden und sah sich suchend im Zimmer um.
„Ich – ich – werde fort müssen! Verzeih’ mir, Schwager, aber ich kann deine Bitte – gerade diese Bitte – nicht erfüllen. Alles, was du sonst von mir haben willst – du oder Käthe – will ich mit tausend Freuden …“
„Mann Gottes, wie kommst du mir vor? Wir wollen nicht ‚alles sonst’ von dir haben, sondern nur dies eine! Ein Vorwand für dein Hiersein ist bald gefunden. Du kannst ihr ja meinethalben sagen, daß ich wirklich Geld von dir haben will – oder was sonst – aber es ist doch am Ende nicht zuviel verlangt –“
„Ja, es ist’s, ist zuviel verlangt! Es – es geht entschieden über – ich kann – ich habe –“
„Hast du uns – hast du Leonie nicht lieb genug, um uns und ihr selbst diesen Wunsch zu erfüllen? Ihr selbst’ meine ich insofern, als sie später demjenigen nur danken dürfte, der sie jetzt von ihrem Vorhaben zurückhält.“
Draußen gab die Hausglocke rasch hintereinander zwei scharfe Schläge an.
„Käthes Signal!“ Der Rechtsanwalt erhob sich ebenfalls. „Lieber Kerl, nun hilft dir alles nichts, du mußt ins Feuer! Sieh zu, was du ausrichtest, und thu’ dein Bestes – wenn nicht dem Mädel zuliebe, dann um unsertwillen. Ich schick’ dir das ‚corpus delicti’ hier herein, sie hat keine blasse Ahnung, daß du da bist. Mach’ doch nicht so’n dramatisches Gesicht, Mensch, wie der Charakterspieler auf dem Theater, der das böse Gewissen hat! Was? Ich soll hier bleiben? Das hat gar keinen Zweck! Was ich ihr zu sagen gehabt habe, das hab’ ich gesagt, und
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_322.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)