verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Die Furcht, der Satan möchte ihn blenden und ihm den klaren Verstand wirren, quälte ihn wie eine fixe Idee. So kam es, daß er oft gerade da, wo die Beschuldigten am geringsten belastet waren, mit ganz besonderer Heftigkeit und Strenge ins Zeug ging.
Doktor Adam Xylander bewohnte ein enges, niedriges Haus in der Kreuzgasse. Bertha, die schon ältliche Tochter seines verstorbenen Bruders, führte dem alten Hagestolz hier seit Jahren die Wirtschaft. Für die Umwohner war das graugelbe Häuschen mit dem stark überbauten Obergeschoß und dem windschiefen Giebel schon vor der Einsetzung des Malefikantengerichts ein Gegenstand heimlicher Scheu gewesen. Wenn sich da droben das winzige Fenster aufthat und das lederfarbige Geiergesicht Adam Xylanders erschien, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, dann hörten die Kinder der Kreuzgasse mitten im Spiel auf und zeigten sich voll ängstlichen Staunens den Mann, der da im Rufe stand, niemals zu lachen, niemals Wein oder Bier zu trinken und keine Seele aus Gottes Welt lieb zu haben. Es machte dann wirklich den Eindruck, als luge ein scharfgeschnäbelter Raubvogel aus seinem Horste herab. Um dieser Aehnlichkeit willen hieß das unschöne Häuschen mit der armslangen kreischenden Wetterfahne in ganz Glaustädt das Geierhäuschen.
Am sechsten Juni lag Doktor Adam Xylander noch bei vorgerückter Tagesstunde zu Bett. Er hatte sich bei dem hochmögenden Vorsitzer Balthasar Noß für heute entschuldigen lassen. Die Ursache war ein unerklärlicher Angstanfall mit stoßartig auftretendem Herzklopfen und häufigem Zittern. Sein starkes Pflichtgefühl trieb ihn zwar zur gewohnten Stunde vom Lager, aber beim Ankleiden war sein Befinden wesentlich schlimmer geworden. Obgleich er sich nun wieder hinlegte und auf Anraten seiner verständigen Bruderstocher etliche Tassen Fliederthee zu sich nahm, wollte der Anfall nicht ebben. Im Gegenteil, die Herzstöße wurden jetzt häufiger, kalter Schweiß trat ihm auf Stirn und Nase und das merkwürdige Angstgefühl, das so gegenstandslos und doch so grauenhaft war, steigerte sich von Stunde zu Stunde. Zuletzt schrie der Patient gell auf, stöhnte, warf sich verzweifelt herum und klapperte mit den Zähnen wie beim heiligsten Schüttelfrost.
So schickte denn Bertha Xylander, trotz des Widerspruchs des Erkrankten, zu Doktor Ambrosius. Der Liebling des Glaustädter Patriziats war ihr von Ansehen bekannt und flößte ihr, sie wußte selbst nicht warum, ein unbegrenztes Vertrauen ein.
Das Laufmädchen, das Bertha Xylander in die Wohnung des Arztes schickte, ward von Rudloff, dem Altgesellen, der gerade mit Elma Wedekind auf der Treppe stand, nach dem Gasthof zum Goldnen Schwan gewiesen. Dort in dem kleinen Gastzimmer pflegte Ambrosius um diese Zeit mit etlichen Tischgenossen das Mittagsmahl einzunehmen.
Im ersten Augenblick war Doktor Ambrosius von der unerwarteten Kundschaft wenig erbaut. Dann aber ließ er vermelden, sobald er gespeist habe, stehe er dem Herrn Beisitzer gern zur Verfügung. Ein unbestimmtes Gefühl war in ihm aufgetaucht, daß er den ärztlichen Besuch bei Xylander möglicherweise zu gunsten der armen Brigitta Wedekind ausnutzen könnte. Unmittelbar ein gutes Wort für sie einzulegen, das war allerdings bei dem ewig lauernden Mißtrauen des starren Fanatikers nicht nur zwecklos, sondern auch lebensgefährlich. Doktor Xylander hätte sofort in dem Fürsprecher einen Satansgenossen gewittert, denn wer Hexen und Zauberer beschützt – so ging ja die Rede, der zählt ebenso zu dem Spießgesinde des Bösen wie der Beschützte selbst. Irgendwie aber ließ sich doch vielleicht anknüpfen. Die Macht des Arztes über den Kranken ist groß, und nach dem kurzen Berichte des Laufmädchens schien der Fall Doktor Xylanders für eine solche Beeinflussung nicht gerade ungeeignet.
In bester Stimmung verzehrte Ambrosius den Nürnberger Goldkrapfen, den die Wirtin vom Goldnen Schwan ganz besonders schmackhaft bereitete. Zum erstenmal seit dem furchtbaren Schicksalstage, der die Familie des Schreiners betroffen, aß er jetzt mit wirklichem Appetit. Obschon er ja zu den Wedekinds, streng genommen, nur ganz äußerliche Beziehungen hatte, war ihm die Sache doch wider alle Vernunft nahe gegangen. Besonders auch um der kleinen Elma willen, die wie verstört umherschlich, mit ihren großen forschenden Augen überall in die Ecken und Winkel spähte und nirgend mehr Rast fand. Diese fiebrische Unruhe wirkte auf Doktor Ambrosius noch peinvoller als die erkünstelte Starrheit des Schreiners, der, von der Erfolglosigkeit aller Bemühungen fest überzeugt, gleichmäßig weiterschaffte und lange über Feierabend hinaus Hobel und Säge handhabte. Doktor Ambrosius sah nun endlich, nach dem fruchtlosen Hin- und Hersinnen der letzten Tage, die freilich noch immer sehr unklare Hoffnung aufdämmern, durch eine klug berechnete Wendung, die ihm der Augenblick eingeben mußte, das Unheil Brigittas um einige Tage oder gar Wochen hinauszuschieben. Und Zeit gewinnen, hieß immerhin doch etwas gewinnen. Man konnte nicht wissen, was für das Treiben des Malefikantengerichts im Schoße der Zukunft schlief.
Er winkte der schmucken Kellnerin, zahlte und schenkte ihr einen Glaustädter Batzen. Für die wackere Frau Wirtin, die jetzt gerade vorbeikam, hatte er ein artiges Wort betreffs der Nürnberger Goldkrapfen. Dann leerte er sein bauchiges Glas und bot den drei Tischgenossen, die gleichfalls aufstanden, freundlich die Hand. „Gott befohlen!“ sagte Herr Jansen, der Buchdrucker. Sein Antlitz war heute schier violett, so tapfer hatte er in den Kalbsnierenbraten und den wohlgeölten Salat, ganz besonders auch in die Goldkrapfen eingehauen. Dann mit gedämpfter Stimme. „Nehmt Euch in acht, herzlieber Doktor, auf daß Euch bei dem gestrengen Adam ja kein unbesonnenes Wörtlein entschlüpfe! Ihr lacht vielleicht, aber es ist mal so. Ins Geierhäuschen ging’ ich Euch nicht für schweres Geld.
„Hol’s der Henker!“ murmelte Fridolin Geißmar, der rothaarige Hauptmann. „Es heißt von eh’: mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen. Geschweige denn gar mit so einem. Da dächt’ ich schon gleich, der Kerl müßte beim ersten Blinzeln Verdacht schöpfen.“
„Unbesorgt! Werde das Leitseil nicht fahren lassen. Herr Kunz Noll, begleitet Ihr mich ein Stück? Wir haben den nämlichen Weg.“
„Bis an die Mauthgasse, gern!“
Der Reißer und Maler mit dem blassen Gesicht und den spitz vorstehenden Backenknochen hatte sich schon beim Eintreten des Laufmädchens vorgenommen, die Gelegenheit zu benutzen, um Herrn Doktor Ambrosius ein kurzes Wort unter vier Augen zu sagen. Es handelte sich um eine wichtige Einzelheit in dem kühnen Entwurf, den Herr Noll jüngst dem Woldemar Eimbeck erörtert hatte. Es drängte den Künstler, ein ruhiges, unbeeinflußtes Urteil zu hören. Doktor Ambrosius besaß vor allen übrigen Mitverschwornen sein volles Vertrauen. Dem leicht erregbaren Hauptmann und dem cholerischen Buchdrucker wollte er vorläufig keine Mitteilung machen, da er die Ansicht der beiden in derartigen Fällen für wenig maßgebend hielt.
Die Sache war bald erledigt. Am Rande des Marktbrunnens, der um diese Zeit völlig verwaist stand, lehnte Herr Kunz Noll eine Minute lang mit Gustav Ambrosius wie in stiller Betrachtung des heiligen Georg und seines giftspeienden Drachen. Breit lächelnd flüsterte er dem jungen Arzt eine bedeutsame Aenderung des letzthin entwickelte Planes zu und erbat sich ein offnes Urteil. Doktor Ambrosius war höchlich erstaunt über diesen neuen Beweis von außergewöhnlichem Scharfsinn und feinster Berechnung.
„Mustergültig!“ raunte er leise. „Aber nun still! Da kommt einer quer über den Platz. Reden wir von was anderm!“
Sie wandelten weiter.
„Ich begleite Euch nur bis dort um die Ecke,“ sagte Kunz Noll. „Dann muß ich nach links ab zur Marienkirche. Noch ist die Ausbesserung der Tabula in der Gusecker Seitenkapelle nicht fertig. Mancherlei kam uns dazwischen.“
„Ihr seid fleißig! Ueberall habt Ihr die Hände im Spiel.“
„Wie man’s nimmt. Vieles und doch nichts rechtes. Ist ja heutzutage in Glaustädt nicht viel Seide zu spinnen! Wenigstens nicht mit der wahren Kunst, die aus dem Herzen kommt. Handwerksarbeit, Herr Doktor!“
„Nicht so ganz, Ihr verzeiht! Ich bin kein Fachmann, aber ein Liebhaber, der sogar manchmal selber den Pinsel führt. Was ich da kürzlich im Hause des Bürgermeisters gesehn – die zwei Frauenbildnisse und die Herbstlandschaft …“
„Ja, das stammt noch aus meiner guten Zeit. Da konnt’ ich noch was. Nach und nach verliert man die Lust. Wenn
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1897, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_390.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)